Bernardo Bertolucci genießt über 4 Jahrzehnte einen anhaltenden Ruf, sich als Regisseur über politische und sexuelle Tabuthemen hinweg zu setzen. Wie kein anderer Filmemacher schuf er mit Filmen wie „Der letzte Tango in Paris“, “1900 - Novecento“ und „La Luna“ epochale, mutige Meisterwerke, die bei der Aufführung obgleich ihrer schonungslosen sexuellen Offenheit und atemberaubendem, visuellen Stil das Publikum gleichzeitig in Entsetzen und Verwunderung versetzte.
Bertoluccis Themen enthalten gehäuft explizite, unbeschönigte Darstellungen des Sexualakts, der Masturbation, Inzest und gewagte sexuelle Experimente. Vorwürfe der Pornografie waren gleichsam vorprogrammiert, doch Bertoluccis Filme sind in der Thematisierung der meist absonderlichen fleischlichen Lust nie exploitativ und zur sexuellen Erregung des Zuschauers beabsichtigt gewesen. Vielmehr portraitiert der italienische, mittlerweile 67 Jährige Regisseur seine Charaktere in allen ihren Facetten und zeigt mit der intensiven Beschäftigung der sexuell-amoralischen, den Normen entrückten Wünschen und Bräuchen seiner Protagonisten wie sehr der Sex und dessen Praktizierung ein wichtiger Bestandteil des menschlichen Charakters ist. Und wie oft dieser sowohl psychische, politische als auch gesellschaftliche Folgen für die Beteiligten haben kann.
Mit dieser Erzählart und seinen Mitteln ist Bertolucci ein einzigartiger Regisseur, selbst in der heutigen, aufgeklärten und immer mehr
enttabuisierten Zeit.
In seinem neuen Werk– „Die Träumer“ – führt Bertolucci seine lange Tradition des Filmemachens fort.
Wie in „Der letzte Tango in Paris“ aus 1972 spielt sich in diesem Film alles um einen Amerikaner, der nach Paris kommt und hier eine sexuelle Affäre beginnt. Die Handlung trägt sich jedoch 4 Jahre früher zu, als in Frankreich eine Kulturelle Revolution durch die Studenten in die heißeste Phase überging.
In diesem Durcheinander lernt der junge Student Matthew (Michael Pitt) das Geschwisterpaar Isabelle (Eva Green) und Theo (Louis Garrel) kennen. Aufgrund ihrer gemeinsamen Leidenschaft für den Film werden sie nicht nur zu guten Freunden, sondern zu einer eingeschworenen Clique mit eigenen Regeln. Hierbei ergibt sich Matthew vollkommen den sexuell freizügigen, philosophisch-hedonistischen Lebensgewohnheiten der beiden jungen französischen Studenten. Aufgrund der liberalen, antiautoritären Erziehung ihrer Kinder fiel es den Eltern nicht auf, dass die beiden Geschwister Theo und Isabelle zueinander eine intensive körperliche und seelische Beziehung einer Abhängigkeit aufgebaut hatten. Die fiktive Realität von Filmen übernehmen diese für ihre "eigene Welt", in welcher ihre eigene Gesetze, nach dem Vorbild ihrer Lieblingsfilme, gelten. Wie man sich voreinander darstellt soll dabei äußerst ästhetisch und die Unterhaltungen untereinander von den Dialogzitaten der Filme von Jean-Luc Godard, Jean-Pierre Léaud, Claude Jade, Jacques Rivette, Louis Malle oder Francois Truffaut zumindest angehaucht sein. Deswegen wurde Matthew als Mitglied eines Cinephilen-Vereins und Kenner sämtlicher zeitgenössischen Werke von Beginn an zum prädestinierten Dritten im Bunde.
Die drei ziehen sich in der elterlichen Wohnung in ihre ganz eigene Welt zurück, in der sie sich mit ihrem filmischen Wissen regelmäßig herausfordern und wer den Test nicht besteht, muss zur „Strafe“ sich vor dem anderen freizügig entblößen oder die sexuellen Fantasien des anderen zur Schau stellen. Sprich all das machen, was in der Gesellschaft ein Tabu ist.
So verlangt Isabelle von ihrem Bruder, dass er zum einem Filmplakat von Marlene Dietrich, ihrem berühmtesten Film „Der blaue Engel“, vor ihren und Matthews Augen masturbiert. Dieser hingegen rächt sich damit, dass er Isabelle zwingt, sich von Matthew deflorieren zu lassen.
Zwischen Isabelle und Matthew entstehen daraufhin intimere, tiefere Gefühle, was dazu führt, dass Matthew seine anfängliche Zurückhaltung und Rolle des Beobachters aufgibt und aktiver um Isabelles Gunst ringt und Isabelle dadurch zwischen dem unsterblich verliebten Matthew und dem von Kindheit an angehimmelten, eifersüchtigen Bruder Theo steht.
Als die Eltern der beiden dann für einen Monat verreisen, entwickelt sich die Dreiecksbeziehung zu einem emotionalen Dampfkessel, genährt von sexuellen Eskapaden, philosophischen Auseinandersetzungen und unversöhnlichen Eifersuchtsanfällen.
Die konstruierte Eigenwelt von Isabelle, Theo und Matthew bekommt tiefe Risse, so wie die Politik auf der Straße immer mehr zu einer gewalttätigen Revolte eskaliert.
Schließlich, kurz vor Ausbruch der Studenten-Revolte, erkennt Isabelle, dass sie sich für einen von den Beiden entscheiden muss.....
Bertolucci und sein Kamerateam sind Meister der Kinematographie. Jede Einstellung, die dynamischen Kamerafahrten, die die Handlung noch lebendiger machen, und der virtuose Schnitt sind eine pure Augenweide. Ebenso die Farben und Kontraste, sowie die alt-bewährte Filmkunst mit vielen Licht-und-Schatten-Experimenten.
Den Enthusiasmus der drei Studenten für die Filme der Nouvelle Vague veranschaulicht Bertolucci mit vielen gut getimten Filmausschnitten und Montagen, die visuell brillant in den Kontext gesetzt werden. Der Dialog der drei Jugendlichen ist ebenfalls übersät mit zahlreichen Zitaten und Huldigungen an die Klassiker der Filmgeschichte. So geraten sich Theo und Matthew über den Streit ob Buster Keaton witziger sei als Charlie Chaplin heftigst in die Haare und Isabelle zeigt durch eine komplett aus dem Gedächtnis nachgestellte Verführungsszene, dass der Sexappeal der damaligen Zeit bis heute nicht ganz verblasst ist.
Wer Francois Truffauts „Jules und Jim“ unwiderstehlich fand, dem Charme der Filmklassiker in stilvollem Schwarz-Weiß erlegen ist und von französischen Filmen nie genug bekommen kann, der wird „Die Träumer“ lieben.
Und wer sich schon immer die Frage gestellt hat, warum die Cineasten sich immer in die ersteren Reihe vor die Leinwand setzen, der wird in diesem Film darauf eine Antwort bekommen.