„Wenn es keinen Gott gibt…
…ist alles erlaubt.“
(Fjodor Michailowitsch Dostojewski)
Wenn es um das Thema
„Spannungskino made in Germany“ geht, muss der hiesige Nationalstolz schon seit geraumer Zeit arg zurückstecken. Denn mal im Ernst: Bis auf allerhand furztrockene – aber dafür gern
Oscar-nominierte – Aufarbeitungen von historischen Ereignissen entstehen in Deutschland nur äußerst selten Werke, die auch mal vom bewährt-flachen
Romantic-Comedy-Schema abweichen.
Im Fahrwasser des
Neo-Slasher-Booms Ende der 90er hat man hierzulande zwar mit Streifen wie „
Anatomie“ oder „Flashback – Mörderische Ferien“ (beide 2000) versucht, auf den lukrativen Horrorzug aufzuspringen – die Resultate sind dabei allerdings so offensichtlich an die hippen amerikanischen Vorbilder angelehnt gewesen, dass man nach einer eigenen Duftnote vergeblich suchte.
2005 hat der gebürtige Frankfurter Christian Alvart mit seinem Zweitwerk „Antikörper“ nun bewiesen, dass es auch anders geht - und dabei den wohl spannendsten nationalen Thriller seit…nun…einer Ewigkeit vorgelegt. Obwohl auch hier Vorbilder wie Thomas Harris oder David Fincher ihre tiefen Spuren hinterlassen haben, besitzt der atmosphärisch dichte Schocker dennoch einen ganz eigenen Stil. Wenn man sich den Film in Ruhe anschaut, wird man außerdem bemerken, dass die eigentliche Serienkiller-Story nur als Katalysator für eine vielleicht nicht bahnbrechend neue, aber dennoch ziemlich interessante und mit biblischer Symbolik vernetzte Abhandlung über die Grenzen zwischen Gut und Böse im Menschen dient.
Der streng gläubige Familienvater und Dorfpolizist Michael Martens (Wotan Wilke Möhring, „Lammbock“) findet nachts kaum noch ruhigen Schlaf, seitdem er vor einem Jahr die grausam verstümmelte Leiche der erst 12-jährigen Lucia an einem See aufgefunden hat. Der Täter konnte nie gefasst werden – bis heute:
Während eines spektakulären und blutigen Einsatzes konnte die Berliner Polizei den geständigen mehrfachen Kindermörder Gabriel Engel (André Hennicke, „
Der freie Wille“) dingfest machen. Offensichtlich hat Engel auch das besagte Mädchen auf dem Gewissen, doch um sich persönlich Gewissheit zu verschaffen, wird Martens von seinem Freund und dortigen Ermittler Seiler (Heinz Hoenig, „Das Boot“) in den großstädtischen Sündenpfuhl eingeladen. Getrennt durch die Gitter der Zelle stehen sich dort der Polizist und der undurchsichtige Psychopath gegenüber – und für den außerdem mit persönlichen Problemen belasteten Martens entwickelt sich das Verhör langsam zu einem Albtraum, denn der gefährliche Engel bohrt sich immer tiefer in das Familienleben und die Psyche seines Gegenübers vor.
Doch ist er nun auch der Mörder von Lucia, und was bedeuten die vierzehn angemalten Quadrate an der Wand der Zelle?
Um Antworten auf diese Fragen zu erhalten, muss Martens seinen festen Glauben und seine Überzeugungen auf eine harte Probe stellen…
Ganz leicht hat es sich „Antikörper“ vor seinem Kinostart nicht gemacht, von seinem potentiellen Publikum ernst genommen zu werden:
Mit einem grenzdebilen Poster, von welchem der splitternackte und blutbeschmierte Killer einen mit psychotischem Blick anschaut, macht man sich im Vorfeld unter anspruchsvolleren Filmfans selten Freunde. Wenn dann auch noch ein Untertitel
„Das Gute ist das Böse daran“ propagiert, kommt nunmal recht flink der Verdacht auf, gleich einen ziemlich hohlen Horrorschinken vorgesetzt zu bekommen.
Reißerisch ist „Antikörper“ allerdings nur selten. Lediglich der Prolog ist als Einstimmung auf das finstere Werk vergleichsweise blutig geraten, danach schaltet Regisseur Alvart in dieser Hinsicht einige Gänge zurück und setzt bis auf wenige Ausnahmen auf die Spannung, die die vielschichtigen Charaktere untereinander erzeugen. Die Story des Kindermörders ist hier, wie schon erwähnt, eher der Schneeball, der letztlich die persönliche Lawine im Polizisten Martens zum Rollen bringt.
André Hennicke verkörpert den bösen Pol der Story, Gabriel Engel, mit einer Gänsehaut-verbreitenden Präsenz, die man so im deutschen Kino selten zu sehen bekommt. Doch auch Wotan Wilke Möhring, der Michael Martens sein Gesicht leiht, liefert eine hervorragende schauspielerische Leistung ab – man nimmt dem Detmolder den zuerst recht naiven Familienvater, der im Verlauf des Films einen wahrhaften Kampf mit sich selbst austragen muss, in jeder Sekunde ab, und wundert sich, warum als deutscher Export lediglich Til Schweiger regelmäßig in US-Produktionen über die Leinwand huschen darf...
Ein besonderes Lob geht bei „Antikörper“ natürlich an den Regisseur Christian Alvart, der auch das Drehbuch verfasst hat und sich zwar bei der Strukturierung der Geschichte und einigen Szenen auch bei amerikanischen Vorbildern wie „
Das Schweigen der Lämmer“ (1991) oder „
Sieben“ (1995) bedient, aber ansonsten ein angenehm einheimisch wirkendes Werk inszeniert hat, das fast vollständig ohne hypermoderne Spielereien auskommt. Die Umsetzung des Films ist nahezu makellos und die wunderbar atmosphärischen Aufnahmen passen einfach nur perfekt zu der gar nicht mal so wenig komplexen Geschichte.
Der Glaube und der ewige Kampf zwischen Gut und Böse sind zentrale Themen im Film.
Auch wenn nicht alle der zahlreich vorhandenen Anspielungen auf die Bibel oder andere Mythologien wirklich sitzen, muss man diese Elemente als sehr interessante Bereicherung für das Werk bezeichnen – lediglich die etwas sehr bemühte Namensgebung bei den Protagonisten (
Michael und
Gabriel, wie die Erz
Engel) hätte nach subjektiver Meinung des Rezensenten nicht unbedingt sein müssen.
Vor allem die Äußerungen während eines Gesprächs zwischen Martens und einem Priester (
„Der Mensch ist nie ein Tier gewesen. Er ist geschaffen nach dem Bilde Gottes.“ – „Dann muss auch Gott eine dunkle Seite haben.“) und ein Monolog von Engel (
„Wie ist das Böse in die Welt gekommen? Gott selbst hat es geschaffen. Warum musste er auch diesen scheiss Apfel ins Paradies hängen? Er wusste doch im Voraus, wie die Sache ausgeht!“) sollten beim Zuschauer eine Überlegung über ihre Konsequenz wert sein. In solchen Szenen stellt Alvart den Glauben des Polizisten auf die Probe und provoziert ohne Frage auch so manchen Kinobesucher, der einen ähnlichen Hintergrund wie der Protagonist besitzt.
Am Ende soll das Werk aber natürlich in erster Linie unterhalten, was ihm aufgrund des stetig wachsenden Spannungsbogens erstklassig gelingt.
Fazit: „Antikörper“ ist ein intelligenter, faszinierender Psychothriller mit nur leichten Schwächen, der dem Regisseur bereits die Tore nach Hollywood geöffnet hat. Ob sich die Arbeit in der Traumfabrik aber als Weg ins Paradies oder als Blick in die Hölle entpuppt, steht auf einem anderen Blatt…