DIE NACHBEBEN DER SCHULD. Wieviel Schuld kann ein einzelner Mensch auf seine Schultern laden, bevor er an ihr zugrunde geht? Eine Frage, die zwar gestellt werden darf, jedoch wohl nur in den wenigsten Fällen eine konkrete Antwort nach sich ziehen wird. Denn was genau ist dies eigentlich:
Schuld? Wie genau misst, kategorisiert oder antizipiert man sie? Ist dies überhaupt möglich? Eine durchaus schwierige und in der Ethik breit diskutierte Angelegenheit, die aus einer einfach erscheinenden Frage plötzlich eine schier unlösbare Herausforderung entstehen lässt.
„THE PLACE BEYOND THE PINES“, ein Film mit durchaus sperrigem Titel, nimmt die Herausforderung dennoch an und entwirft über 135 Minuten ein beeindruckendes Schuld-und-Sühne-Geflecht, in dessen Netz sich nicht nur die handelnden Akteure, sondern auch die Zuschauer mehr als einmal verfangen. Einer Spinne gleich, die im Schatten lauert, lockt uns der Film mit einer Starriege an, das Geschehen mitzuverfolgen, nur um plötzlich in einem unbemerkten Moment hervorzuschnellen und jeden, der nicht auf der Hut ist, mitten ins Verderben zu ziehen. Denn auch, wenn der Film nicht sonderlich zugänglich oder gar massenkompatibel daherkommt und übliche Sehgewohnheiten auf eine recht harte Probe stellt, so lässt einen das Gezeigte wohl trotzdem nicht kalt.
Ein Hinweis vorab:
„THE PLACE BEYOND THE PINES“ ist eine filmische Grenzerfahrung, die man in Anbetracht ihrer Wirkm
ächtigkeit am besten ohne jegliche Hintergrundinfos erleben sollte. Diese Rezension verzichtet daher im Folgenden bewusst auf allzu viele Details die Geschichte betreffend, um den ungestörten Sehgenuss eines der ungewöhnlichsten Filme der letzten Jahr nachhaltig zu gewährleisten. Denn das ist der Film in jedem Fall: ungewöhnlich. Ungewohnt schonungslos, mit einer fast schon unerträglich grimmigen Grundstimmung ausgestattet, wird von Regisseur und Co-Drehbuchautor
Derek Cianfrance („
Blue Valentine“ [2010]) über die gesamte Laufzeit von zwei vollen Stunden ein filmisches Kaleidoskop der menschlichen Verantwortung entworfen, in dem die Nachwirkungen eines Handelns sich teils erst sehr viel später bemerkbar machen. Sie tönen dafür aber umso lauter.
Soviel sei verraten: Motorradstuntman Luke (Ryan Gosling) erfährt eines Tages, dass ein zurückliegender One-Night-Stand mit der rassigen Romina (Eva Mendes) Folgen hat: Er wird Vater. Sich nicht aus der Veranwortung stehlen wollend, nimmt er den tolldreisten Vorschlag an, gemeinsam mit Mechaniker Robin (Ben Mendelsohn) Banküberfälle zu verüben, um so für den Unterhalt seines Sohnes zu sorgen. Und das klappt aufgrund des fahrerischen Könnens des Stuntman auch soweit recht gut. Doch als Polizist Avery Cross (Bradley Cooper) eines Tages seinen Weg kreuzt, nimmt das Schicksal plötzlich seinen unberechenbaren Lauf, der die Zukunft beider Familien generationenübergreifend für immer verändern wird...
Den Hauptdarsteller gibt es nicht in Cianfrances Film, der grob zusammengefasst von menschlichen Schicksalen berichtet, welche auf so wundersame wie auch äußerst tragische Weise miteinander verbunden sind. Jedes Handeln, jedes Tun im Jetzt beeinflusst hier die Zukunft eines Anderen, hat unmittelbare Folgen, die niemand so hat kommen sehen. Das macht es einerseits leicht für Cianfrance, seine Parabel über Schuld und Verantwortung geschickt verschachtelt zu erzählen, erschwert dem Zuschauer jedoch auch ein wenig den Zugang zu diesem ganz und gar nicht optimistisch stimmenden Film. Denn eine helfende Hand sucht man hier genauso vergebens wie fröhliche Zeiten, in denen ein flüchtiges, ehrliches Lächeln noch unbekümmert über das Gesicht eines Menschen huscht. Zum Lachen ist nun niemandem mehr zumute in diesem tragischen Spiel des Lebens, das sich in eine abrupt endende Eröffnung, eine den weiteren Ton angebende Mittelpartie und ein spannendes Finale aufteilt. Ob es Sieger gibt oder überhaupt welche geben kann? Nur soviel: Die Zeiten sind, wer hätte es gedacht, hart. Gerade in einem Film wie diesem.
Und so verzichtet Derek Cianfrance ganz bewusst darauf, einen echten Sympathieträger im herkömmlichen Sinne in seine Geschichte einzubauen, die aufgrund der nicht zu verhehlenden Dichte aus allen Nähten zu platzen scheint. Die vollzogenen Handlungen sind der notwendige Katalysator einer Story, die wahrlich Stoff für mehrere abendfüllende Filme abgegeben hätte. Die Genres Krimi, Thriller, Drama geben sich gekonnt die Klinke in die Hand und verschmelzen mitsamt den drei vierzigminütigen Episoden – jede für sich fraglos toll gespielt und inszeniert – zu einem Triptychon, das als Gesamtkunstwerk betrachtet recht beeindruckend daherkommt. In der „Kürze“ seiner einzelnen Episoden liegt für das filmische Dreigestirn jedoch auch gleichzeitig das einzige Manko im ansonsten fast makellosen Gesamtgefüge begründet: So atmosphärisch-dicht die einzelnen Geschichten auch erzählt sein mögen, so sehr wünscht man sich doch gerade im letzten Drittel, dass die menschlichen Schicksale noch etwas vertiefter dargestellt würden. Denn dass Cianfrance ein Meister im Sezieren ist, stellt schon lange kein Geheimnis mehr dar.
Umso überraschender ist es dann, dass der Ausnahmeregisseur es nicht vollends schafft, die aufgebaute Spannung der ersten Episode, welche mit einem unerwarteten Knalleffekt endet, komplett zum Finale des Films herüberzuretten.
Ryan Gosling („
Drive“ [2012]), der hier einen Stuntfahrer und damit abermals eine wortwörtliche Attraktion abgibt, spielt wieder einmal mit stoischer Miene, in der jedoch viel Herz verborgen liegt. Sein Charakter ist genauso von den Auswirkungen seiner eigenen Taten gebeutelt wie der des Polizisten Avery Cross (Bradley Cooper), der zufällig den Weg des motorisierten Einzelgängers kreuzt – und damit die schicksalshaften Ereignisse erst so richtig ins Rollen bringt. Diese beiden Episoden, die in der Kürze der Zeit jeweils weitaus mehr erzählen als manches Überlängenepos, sind zweifellos die stärksten 90 Minuten des gesamten Films und würden eigentlich die Höchstwertung von 6 Sternen rechtfertigen. Die Entwicklungen in den letzten 30 Minuten passieren jedoch etwas zu schnell und lassen das zuvor so glaubwürdig aufgebaute, scheinbar standfeste Kartenhaus menschlicher Schicksale dann doch noch etwas wackelig erscheinen.
Dies ist freilich Kritik auf recht hohem Niveau, da uns der Film nach einem kurzen Durchhänger immerhin mit einem versöhnlichen Ende in den Abspann entlässt, welches seine ganze Kraft aus der transportierten Ruhe und der Macht der Bilder bezieht. Bis hierhin sah der Zuschauer 75% Meisterwerk, dem sich 25% etwas überhasteten, nichtsdestotrotz guten Coming-of-Age-Dramas anschlossen. Was verbleibt, ist somit unterm Strich ein immer noch ausgezeichnetes, von einem tollen Schauspielensemble getragenes Filmwerk, das nur knapp am erhofften Prädikat „Film des Jahres 2013“ vorbeischrammt. Auch das ist irgendwie Schicksal, von Menschenhand gemacht.
Cover & Szenenbilder: © StudioCanal