MORAL...
„Weißt du was das ist, MORAL?“ fragt ein Kneipenbesucher einen anderen,
„Ich werd dir sagen was Moral ist. Moral ist was für die, die sie gepachtet haben!
Das sind die Reichen.
Wer sind die, die immer recht bekommen?
Das sind auch die Reichen.
Und die Armen gehen leer aus!“
GERECHTIGKEIT ...
Auch das möchte der in schwarzer Lederjacke gekleidete, gepflegt erscheinende Mann in den mittleren 30ern, der sich an einem Bartresen vor seinem Pils abstützt, seinem Gegenüber verraten. Sein Verständnis von moralischer Gerechtigkeit ist eine Pistole, die er flink aus dem Gürtel hervor holt. „Dieses kleine Ding“ sei sein einziges Argument wenn Uniformierte mit ihrer gepachteten Gerechtigkeit auftauchen und von „Moral quatschen“. Ach und nebenbei, ob man „Scheiße baut oder recht hat“, das ist mit dem Ding ziemlich egal.
Mit einem Trommelschlag wird das Bild dunkel und nach diesem Prolog beginnt die tragische Erzählung um den Menschenfeind.
„Jedem sein Leben – jedem seine Moral! Das ist die Geschichte eines armen Schluckers!“
Untermalt von patriotischer Marschmusik und Bildern einer Diavorführung, erzählt der Protagonist die Geschichte eines namenlosen ehemaligen Pferdeschlachters – seine Geschichte. Angefangen von seiner Kindheit, als ihn seine Mutter mit zwei Jahren verließ und er in ein Heim gesteckt wurde, da sein Vater im 2. Wel
tkrieg kämpfte – wo er auch als kommunistischer Kollaborateur im KZ starb. Mit 6 Jahren, noch immer im Heim wird ihm von einem Glaubensbruder „im Namen Jesu“ seine Unschuld geraubt. Mit 14 erlernt er den Beruf des Schlachters, weil er sonst verhungert wäre. Mit harter Arbeit kann er seine eigene Metzgerei betreiben und dadurch seine Lebensexistenz sichern. Eine junge Näherin lernt er bald kennen, entjungfert sie im Hotel gegenüber ihrer Fabrik und heiratet sie.
Die Frucht dessen ist eine autistische Tochter, die seit der Geburt kein Wort spricht. Da auch diesmal die Mutter flüchtet, muss der Vater die Tochter alleine aufziehen und die sexuelle Anziehung zum eigenen Kind innerlich bekämpfen. Als das Mädchen die erste Regel mit 14 bekommt und verschreckt zu ihrem Vater in die Metzgerei läuft, schließt dieser beim Anblick des blutigen Höschens voreilig, sie sei von einem Arbeiter vergewaltigt worden.
Blind vor Wut läuft er zum nächst gelegenen Bau und sticht den ersten Arbeiter, der ihm begegnet, mit einem Messer nieder. 2 Jahre Gefängnis – die Tochter kommt in ein Kinderheim.
Nach Entlassung findet er keine Arbeit als Schlachter und muss kurzfristig in einer Kneipe kellnern. Dort interessiert sich die Kneipenwirtin für ihn, er schwängert sie und erfüllt von dem Wunsch, sie würde ihm eine neue Metzgerei finanzieren, heiratet er sie.
Doch es kommt ganz anders – um Geld zu sparen, ziehen die beiden zu ihrer senilen Mutter in die Wohnung, des Schlachters Traum von einem neuen Anfang zerplatzt wie eine Seifenblase und er findet sich ohne Job im Ehebett seiner Schwiegermutter an der Seite eine dickleibigen, geizigen Frau wieder, die er über alle Maßen hasst. Zum einen wegen ihrer abstoßenden Fettleibigkeit, zum anderen, weil er finanziell von ihr abhängig ist.
Hier beginnt die eigentliche Handlung des von Philippe Nahon brillant gespielten Schlachters. Und der Plot findet größtenteils in seinen Gedanken statt, denn die Stimme des Schlachters und seine Kommentare zu den Handlungsabläufen sind stete Begleiter in dem Film. Sein, wie er es selbst bezeichnet, tragischer Kampf gegen die Menschen in seinem Umfeld, ausgetragen in seinen von Hass und Verachtung erfüllten Gedanken bilden die Haupthandlung.
Je länger er sich in der Gesellschaft von seiner „Dicken“ und der alten Schwiegermutter aufhält, desto größer wird sein abgrundtiefer Hass.
In den 80er Jahren zeigt sich Frankreich und die Städte um Paris als einer der herunter gekommensten, verwahrlosesten Orte Europas. Die Einwohner meist arbeitslos und voller Frustration und Angst um die Zukunft und um die eigene Existenz.
Der Schlachter bildet hierbei den Prototyp des armseligsten, seelisch zerfressensten Vertreter der armen Unterschicht des damaligen Frankreichs. Die Kluft zwischen arm und reich ist so groß wie nie zuvor.
Gedrängt von seiner egoistischen, schwangeren Frau, die er gedanklich nur noch „die Dicke“ nennt, macht er halbherzige Versuche, sich als Wurstverkäufer und Nachtwächter eines Altenheimes zu verdienen. Beide Versuche scheitern über kurz oder lang. Dieses Erlebnis des Versagens, gepaart mit den zerstörten Zukunftsaussichten und Hass auf seine Ehefrau baut sich in dem 50-Jährigen wie gefährlicher Überdruck in einem Dampfkessel auf.
Als ihn seine Frau auch noch runter macht, weil er kein Geld nach Hause bringt, dreht der Schlachter durch, was sich in einer gedanklichen Fluch- und realer Gewaltorgie entlädt.
Konfrontiert mit dem Vorwurf, das letzte Geld bei einer Prostituierten ausgegeben zu haben, tritt der Rasende der Schwangeren in den Bauch und schlägt 5 Mal mit der Faust hinein, wirft die Schwiegermutter zu Boden und bewaffnet sich mit dem Revolver des verschiedenen Schwiegervaters.
Mitleidslos und hasserfüllt blickt er nach verrichteter Tat auf die wimmernde Ehefrau. Nach außen ausdruckslos, doch innerlich überschwappend von Hass und Rachegefühlen: „Mein Baby! Mein Baby!...hast du nicht begriffen, dass dein Baby nur noch Hackfleisch ist?“ Und auf der Flucht aus der Vorstadt Lalle nach Paris empfindet er nicht den leisesten Gedanken der Reue. „Diese zwei Schlampen sind in der Lage die Polizei zu rufen. Vielleicht haben sie’s schon getan. So wie ich sie grad geschlagen hab, scheißt sie wahrscheinlich grade ihren Fötus auf den Teppich.“
In Paris angekommen findet sich der Schlachter in dem äußersten Zustand der Einsamkeit und Isolation wieder. Ehemalige Freunde weisen ihn ab, sämtliche Pferdemetzger und –schlachter verweigern ihm eine Anstelle und bald ist auch die eigene Kasse leer.
Sein einziger Besitz ist neben dem was er an sich trägt der Revolver mit drei Kugeln.
Seelisch ist der Schlachter total zerrüttet, spricht kaum ein Wort und zieht sich von der Außenwelt in homophobe Monologe zurück. Ein Soziopath, nahe der Schizophrenie.
Regisseur Gaspar Noé, Sohn des in Frankreich berühmten argentinischen Malers Luis Felipe Noé, blendet 15 Minuten vor Schluss für den Zuschauer eine von Sirenen begleitete Warnung ein. Ein Countdown von 30 Sekunden, in denen der Zuschauer entweder die Möglichkeit hat, das Kino zu verlassen, oder die Vorführung im eigenen Wohnzimmer abzubrechen.
Die Warnung ist gerechtfertigt. Denn die im Film aufgebaute Nähe und Vertrautheit mit dem Schlachter kann in dem was danach kommt für manche zarte Gemüter seelische Narben hinterlassen.
Homophobie, Pädophilie, Sexismus und Gewaltverherrlichung würden wahrscheinlich viele Kritiker und Hasser von Noés Werk dem „Menschenfeind“ vorwerfen. Doch das eigentliche Thema ist die von dem uns vertrauten Normzustand entrückte Vorstellung von Moral und Gerechtigkeit. Die Abbildung der Realität eines zerstörten Menschen, dem alles bis auf den Hass und den Rachedurst zu seinen Mitmenschen genommen wurde.
Was diesen Film zu einem Meisterwerk macht ist Noés stilisch überzeugende subjektive Projektion des seelischen Zustands des Protagonisten. Diesen Effekt der Subjektivität verstärkt noch die geschickt und originell eingebaute Idee im Drehbuch, den Handlungsverlauf durch die Off-Stimme des Protagonisten zu begleiten und zu erklären.
Was die intensivste Wirkung auf den Zuschauer hinterlässt ist die Kameraarbeit, die Noé so meisterhaft einsetzt, wie ein geschickter Künstler seinen Pinsel. Die Kamera ist stets nah auf das Gesicht des Schlachters fokussiert und wenn die Handlung im Film dargestellt wird, geschieht dies eher in ruhigen und statischen Bildern meist in der Halbtotalen, bis plötzlich mit einem ohrenbetäubenden Pistolenschuss die Kamera auf das Gesicht des Protagonisten in 5-facher Geschwindigkeit heranzoomt. Die Absicht: eine unmittelbare Reaktion und Reflexion des Protagonisten auf das eben Gezeigte.
Noé hat beim „Menschenfeind“ (so der deutsche Titel, sehr passend aber auch der Originaltitel „One against all“) sowohl Regie geführt, als auch das Drehbuch geschrieben (und in einer Szene hat er auch einen Cameo-Auftritt, nämlich als der Arzt, der den neuen Nachtwächter im Altenheim rumführt) und sein Genie kommt dabei immer wieder hervor.
Die Handlung ist auf 93 Minuten so dicht gepackt und jede einzelne Information ist für das psychische Gesamtbild des Hauptdarstellers notwendig. So werden die Indizien, dass der Schlachter seine Mitmenschen im Laufe des Filmes nur noch als „Fleisch“ betrachtet, reduziert auf die physische Materie, immer auffallender und ist nicht nur ein wichtiges Schlüsselsymbol, sondern auch eine Erklärungsmöglichkeit seines Zustands und dessen Entwicklung und Eskalation zum Schluss.
Die inhaltlichen Parallelen zu Scorsese’s bekanntestem Werk „
Taxi Driver“ sind nicht zufällig. Noé offenbarte in einem Interview, dass „Menschenfeind“ in gewisser Hinsicht auch eine Hommage an "Taxi Driver" sein soll. Manche Szenen und Dialoge stellen eine offensichtliche Anspielung dar.
Ein anderes Beispiel eines aus Scorsese's Oeuvre entlehnten narrativen Elements ist der Prolog des Films. Noé lehnt sich mit seiner zynisch zur Marschmusik unterlegten Diaschow hierbei an Scorsese's Debütfilm "Hexenkessel" an, in welchem die Bilder aus einem bereits vergilbten Familienvideo die Charaktere in ihren Jugendjahren zeigen und dem Zuschauer dadurch auf innovative Art die Beziehung der Personen zueinander vor Augen führen.
Filmemacher Noé erscheint unterm Strich als eine zeitgenössischere Weiterentwicklung von Scorsese: „Menschenfeind“ ist in viel höherem Maße erbarmungsloser und schockierender als sein Vorbild, dabei auf ganz eigene Weise und unter Verwendung effektiver Stilmittel entwaffnend realistisch, zynisch und eindringlich. Er geht da weiter, wo Scorsese nur andeutet.
Ein Warnschild meinerseits ist zum Abschluss auch unerlässlich: Gaspar Noé's Film brennt sich tief in die Hirnrinde des Zuschauers ein und hinterlässt mit seinen intensiven Bildern und nihilistischem Inhalt tiefe Rückstände im Unterbewusstsein - Zartbesaitete sollten hiervon wirklich Abstand nehmen!