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Leolo

Leolo

Ein Film von Jean-Claude Lauzon

Weil ich träume, bin ich nicht.
Weil ich träume, ich träume.
Weil ich mich meinen Träumen überlasse in der Nacht,
bevor mich der Täg empfängt.
Weil ich nicht liebe.
Weil ich Angst habe zu lieben.
Ich träume nicht mehr.
Ich träume nicht mehr.


Selten sind jene Momente, in denen der verdunkelte Raum des Kinos durch das Licht der Leinwand so stark erhellt wird, dass man aus seinem eigenen Schlaf gerissen wird. Selten sind jene Momente, in denen die Leinwand wie ein unglaublich schönes Licht am Ende eines langen Tunnels wirkt. Bereitwillig wird man sich zeigen, diesen Weg zu gehen, dem reizvollen Licht entgegen, um am Ende dieser Reise vielleicht ein kleines Stück zu sterben, aber in der Hoffnung, den dunklen Saal des Kinos zumindest für ein paar Sekunden so zu verlassen wie ein Neugeborenes den Kreissaal. Benebelt fühlt man sich, wenn man in die Dämmerung des Alltags zurückkehrt. Die Sinne wirken betäubt und geschärft. Es sind genau jene seltenen Momente, in denen die Magie des Kinos so viele kleine Funken sprühen lässt, dass man einfach nur seine Tasche aufmachen muss, um etwas davon mit nach Hause zu nehmen.

Ich finde meine einzigen Freuden in der Einsamkeit. Meine Einsamkeit ist mein Palast. Da habe ich meinen Stuhl, meinen Tisch, mein Bett, meinen Wind und meine Sonne. Wenn ich woanders sitze, als in meiner Einsamkeit, dann sitze ich im Exil, sitze ich in einem trüger
ischen Land. Weil ich träume, bin ich nicht. Weil wenn ich träume, bin ich nicht verrückt.


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Der Film spielt in einem Armenviertel in Montreal und erzählt die Geschichte des frühreifen Jungen Leo Lauzon, der seine objektive Lebensrealität zugunsten einer subjektiven Phantasiewelt aufgibt. In dieser Welt lebt er frei von Angst und trägt den würdevollen italienischen Namen Leolo Lauzone, weil seine Mutter von einer importierten Tomate schwanger wurde, auf die ein sizilianischer Bauer onanierte: "Niemand hat das Recht zu behaupten, ich sei kein Italiener. Dafür ist Italien einfach zu schön, um nur den Italienern zu gehören."
Leolo bringt all seine Gedanken auf Papier und macht seine Familie zu Romanfiguren, die allesamt an einer psychischen Geisteskrankheit leiden. Von Beginn an sträubt er sich gegen die familiäre Obsession, an die reinigende Kraft des Scheissens zu glauben und die allwöchentliche Einnahme einer Abführtablette wie eine kirchliche Kommunion zu zelebrieren, um den Körper von allen Krankheiten zu befreien. Wie fremde Menschen erscheinen ihm die skurilen Mitglieder seiner eigenen Familie.
Die Gedanken, die er auf Papier notiert, schmeisst er sofort wieder in den Mülleimer, wo sie von einem alten Mann gefunden werden. Dieser Mann, der als Dompteur der Verse benannt wird, wühlt allnächtlich in Abfällen und sammelt weggeworfene Bilder und Briefe von Menschen, um als eine Art Don Quijote gegen die Unterdrückung der Poesie zu kämpfen.
Leolos einziger Lebensantrieb ist die Liebe zu Bianca, die im gleichen Haus wohnt und sich für seinen Großvater prostituiert. Leolo liebt sie im Stillen, da er nicht den Mut hat, ihr seine Liebe zu gestehen und so sammelt er seine ersten sexuellen Erfahrungen auf eher bizarren Wegen: "Sex habe ich zwischen der Ignoranz und dem Horror entdeckt."

Und wie immer sah ich mir selbst dabei zu, wie ich leben spielte.

Jean-Claude Lauzons Film ist eine wuchtige Tragikomödie, in der sich Heiterkeit und Schmerz auf so ehrliche Art umeinanderschlingen, dass man als Zuschauer angenehm traumatisiert zurückbleibt. Es ist eine Geschichte über Traum und Wirklichkeit, über fließende Poesie und trockene Berichterstattung. Wenn Leolo sich allnächtlich mit Mütze und Handschuhen vor den geöffneten Kühlschrank sitzt, um Licht zum Lesen zu haben, zeigt sich das Aufeinanderprallen zweier unvereinbarer Existenzen: vor ihm breitet sich ein Meer von Wörtern aus, auf dem er in unbekannte Welten treibt, und hinter ihm haucht die reale Kälte des Kühlschranks Frost in seinen ungeschützten Nacken.

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Dabei fließen Traum und Wirklichkeit stets ineinander und lassen sich oftmals schwer voneinander trennen. Ihren Sinn erhalten sie einzig durch Leolos Blick auf die Welt. So entwickelt sich Leolos Bruder Vermont im Laufe des Films von einem schmächtigen Jungen zu einem muskelbepackten Mann, während Leolo nicht zu altern scheint und stets der kleine, frühreife Junge bleibt, dessen innere Monologe jedoch von der Stimme eines erwachsenen Mannes gesprochen werden. Und wenn sich die gesamte Familie dann sonntags einen wohltuenden Ausflug gönnt und in Leolos Augen für einen kurzen Moment eine heile Welt offenbart, dann ist auch Vermont plötzlich wieder der kleine, schmächtige Junge von früher. "Man muss träumen, Leolo! Man muss träumen!" rät ihm der Dompteur der Verse, der gegen die tristen Windmühlen der Realität kämpft, indem er die weggeworfenen und längst vergessenen Bilder und Briefe von Menschen sammelt, da er glaubt, sie müssten mit der Asche von poetischen Versen vermischt werden, um in der Vorstellung der Menschen wiedergeboren zu werden. Er versucht Leolo vor dem möglichen Abgrund seiner geisteskranken Familie zu retten, die jedoch selbst in ihrer abstoßenden Groteske eine innerliche Verletzlichkeit und eine wie auch immer geartete liebevolle Menschlichkeit preisgibt.

Lauzon arbeitet hier vor allem das Verhältnis der beiden Brüder Leolo und Vermont heraus und lässt sie als prinzipiell gegensätzliche Figuren agieren: der träumende Leolo existiert nur in seinem Kopf, der muskelbepackte Vermont dagegen definiert sich über seinen Körper. Doch durch ihre Gegensätzlichkeit ziehen sie sich auch an und so sucht Leolo immer wieder die schützende Nähe seines Bruders, den er vor allem wegen seiner beschränkten, aber liebenswerten Unwissenheit liebt. Beide teilen sich ein gemeinsames Zimmer mit gemeinsamen Bett und anfangs scheinen die Hälften noch relativ gerecht aufgeteilt. Doch je mehr die Muskeln seines Bruders anschwellen und je mehr Leolo in seinem eigenen Leben scheitert, desto mehr breitet sich Vermont im Zimmer aus. Als Leolo dann schließlich eines Morgens bewusstlos am Boden liegt und den Kampf um seine Traumwelt endgültig verloren hat, befindet er sich kennzeichnender Weise auf Vermonts Seite.

Versteckt und flüchtig sind Leolos Blicke, mit denen er sich an Bianca anschmiegt: er sieht sie stets nur durch Schlüssellöcher und Fensterspalten und erhascht nie mehr als ein liebevolles Lächeln von ihr. Sie bleibt das ewig unerreichbare Licht, eine Projektionsfläche des Glücks, die ihn immer wieder lockt und dennoch ins Leere laufen lässt. Es ist Bianca, die seiner grauen Welt die Farben einhaucht. Sie ist sein Italien: wunderschön und so weit weg. Aber statt Liebe lernt Leolo nur Prostitution und Perversion kennen. Wenn sein gleichaltriger Kamerad für Geld eine krallenlose Katze vergewaltigt, weiß Leolo, dass das Geld nur ein beruhigender Vorwand war und dass es auch ohne Bezahlung geschehen wäre.

Für Leolos Einsamkeit findet Lauzon dabei ebenso enorme poetische Textpassagen wie ausdrucksstarke Bilder: wenn Leolo zusammen mit dem Dompteur der Verse am Lagerfeuer sitzt, sind sie ringsum von Wasserfällen und Wassermassen umgeben. Die beiden Einsiedler wirken wie die letzte Festung, in der die Glut des Lebens noch zum Feuer entfacht, während das Wasser um sie herum alles zu löschen droht.

Und an diesem Tag hatte ich verstanden, dass die Angst ganz tief in uns steckt. Und dass ein Berg von Muskeln oder eine Million Soldaten nichts daran ändern konnte.

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Der Film trägt viele autobiographische Züge des Autors und Regisseurs Jean-Claude Lauzon. Für ihn war die Arbeit am Film eine befreiende Therapie: "Leolo hat mir außerordentlich gut getan. Der Film hat viel Aggressivität in mir abgebaut. (...) Ein Künstler schafft es, Sachen zu machen, die viele Leute auf der Couch eines Psychiaters machen.“ Obwohl "Leolo" erst sein zweiter Film war, war er zugleich sein letzter: während der Arbeit an seinem nächsten Projekt kam er zusammen mit seiner Lebensgefährtin bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Er selbst steuerte das Flugzeug. Sylvie Pagé äußerte sich einmal über ihn: "Lauzon ist phasenweise kreativ. Zwischen den Filmen fliegt er mit seinem Flugzeug, taucht in Meerestiefen ab oder rast mit seinem Motorrad durch die Gegend. Lauzon drückt seinen Lebensdrang in Bewegung aus. Während dieser Reisen beobachtet er, häuft Notizen und Aufzeichnungen an. Und dann, eines Tages, reift ein Thema heran, das nur noch darauf wartet zu erblühen."

Endlos liese sich ein Wort an das andere reihen, um den Film zu beschreiben und doch würde man zu wenig sagen. Seine Poesie liegt zwischen den Wörtern und jeder Zuschauer findet eine andere Wortlücke, in die er sich setzen kann und von der aus er den Film betrachten kann. Der Film bietet einen Reichtum an ungreifbaren Schätzen, die wie Wassermassen ständig zerfließen und niemals festgehalten werden können. Was bleibt ist eine permanente tänzerische Bewegung.

Nicht umsonst zählt das Time Magazine den Film zu den 100 besten Filmen aller Zeiten. Selten hat man ein Kino gesehen, das einen mit seiner unbändigen Magie von Beginn an so stark verzaubert. Mit vollen Taschen verlässt man das Kino und hofft, dass sie nicht schon wieder leer sind, wenn man zuhause angekommen ist. Man hofft, zumindest ein kleines Überbleibsel davon unter sein Kopfkissen legen zu können und seinen Kopf so lange wie möglich auf diesem Kissen ruhen zu lassen. Aber das sind Betten, die es nur in Träumen gibt.

Eine Rezension von Martin S.
(19. Juli 2009)
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Daten zum Film
Leolo Frankreich, Kanada 1992
Regie Jean-Claude Lauzon Drehbuch Jean-Claude Lauzon
Produktion Aimée Danis, Lyse Lafontaine Kamera Guy Dufaux
Darsteller Maxime Collin, Ginette Reno, Giuditta Del Vecchio, Pierre Bourgault
Länge 103 min. FSK 16
Filmmusik Richard Grégoire
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