Jerzy Skolimowskis „Essential Killing“ ist kein politisches Statement – es ist die bemerkenswert nüchterne Dokumentation eines Kampfes um das nackte Überleben.
Auch wenn der polnische Regisseur das hauchdünne Grundgerüst einer Geschichte kaum brisanter hätte errichten können, nimmt er in dieser selbst keinen Standpunkt zu
gut oder
böse,
richtig oder
falsch, ein.
Töten oder
getötet werden sind die Alternativen, zwischen denen der namenlose Protagonist hier wählen muss.
Der Namenlose (Vincent Gallo) versteckt sich in den Schluchten einer ebenso unbekannten Wüste vor einem kleinen Trupp US-Soldaten, die sich offensichtlich auf Minensuche befinden.
Aus Furcht vor den sich langsam näherenden Männern entreißt er dem herumliegenden Leichnam eines weiteren Soldaten eine Panzerfaust.
Ob er nun ein Terrorist oder nur ein unschuldiger Zivilist am falschen Ort ist, erfährt der Zuschauer nicht explizit – auch Skolimowski gibt in einem Interview an, dass er diese zwei Möglichkeiten bewusst offen gelassen hat.
Obwohl wahrscheinlich die Wenigsten mit diesem Mann, der kurz darauf seine unwissentlichen Verfolger mit seiner Waffe tötet und über dessen Vergangenheit man bisher nicht die geringste Information erhalten hat,
wirklich sympathisieren können, ist er die Identifikationsfigur in „Essential Killing“.
Der Regisseur erwartet hier von seinem Publikum, ausschließlich den unverfälschten Bildern zu folgen und Zeuge des Leidensweges seines mysteriösen „Helden“ zu werden.
Dieser „Held“ wird nach seiner Tat vom Militär gefangen und brutal verhört.
Doch er bleibt trotz all der Qualen und der Folter in sich gekehrt – er spricht kein Wort!
Erinnerungen werden in ihm wach: Er sieht eine Frau und hört islamische Gesänge, in welchen zum Kampf im Namen Allahs aufgerufen wird.
Als Zuschauer tendiert man spätestens ab diesem Moment vermutlich dazu, diesen Mann als Terroristen, als skrupellosen Mörder, abzustempeln.
Aber da man zuvor auch an den gewissenlosen Misshandlungen teilgenommen hat, die von einer Übermacht auf das - in diesem Fall wirklich – wehrlose Opfer herabgeprasselt sind, verbleibt man weiterhin mit seiner Hoffnung hinter ihm.
Der Regisseur drückt es folgendermaßen treffend aus:
„He is the one who is chased by many, and in the fight of one against many, you tend to take the side of the underdog.“
Die eigentliche Handlung, die das durch den Titel angekündigte
lebensnotwendige Töten bedingt, setzt in einer anderen, erneut namentlich nicht genannten, Landschaft (aufgrund späterer Dialoge darf man annehmen, dass sich diese in Polen befindet) ein.
Ein Gefangenentransporter, in welchem sich der Protagonist befindet, kommt in einer kargen, verschneiten Einöde von der Strasse ab.
Während andere den Unfall nicht überlebt haben oder schwer verletzt sind, kann unser „Held“ fliehen. Ohne Nahrung und barfuss durch das eisige, ihm fremde Gebiet. Die erbarmungslosen Verfolger eng auf den Fersen...
Bereits auf den vergangenen
Fantasy-Filmfest Nights hat sich der Rezensent ein erstes Bild von Jerzy Skolimowskis außergewöhnlichem Werk machen können.
Doch „Essential Killing“ hat sich für diesen damals, im Kontext der Gesamtveranstaltung, irgendwie merkwürdig – fast wie ein Fremdkörper – angefühlt.
Er hat dem Rezensenten nicht sonderlich gut gefallen, oder besser: Er hat ihn enttäuschend kalt gelassen.
Nun, im Zuge der anstehenden DVD-Veröffentlichung, hat der Verfasser dieser Zeilen den Film erneut sichten können und muss eingestehen, dass dieser schließlich doch bei ihm die erwünschte, nachhaltige Wirkung erzielt hat.
Es handelt sich hier bestimmt nicht um ein makelloses Meisterwerk, das mit einer intelligent ausgeklügelten Geschichte imponieren kann, doch „Essential Killing“ trifft den interessierten Zuschauer mit seiner unpolierten, rauen Kraft auf einer tiefen, lediglich spürbaren Ebene.
Eine flammende Liebe ist es vielleicht noch immer nicht, die Skolimowskis Arbeit bei dem Rezensenten entfacht hat, aber nicht zuletzt die zeit- und schnörkellose Inszenierung sowie die aufopferungsvolle Leistung des exzentrischen Hauptdarstellers Vincent Gallo („Náufragos – Gestrandet“), der für seine Rolle tatsächlich ohne Schuhwerk durch den meterhohen Schnee geklettert ist und an einer laktierenden Frauenbrust gesaugt hat, fordern von diesem ein Höchstmaß an Respekt ein.
Jerzy Skolimowski („Der Start“) hat vor „Essential Killing“ (und dem 2008 erschienenden „Cztery noce z Anna“) viele Jahre dem Filmemachen den Rücken gekehrt, um in Kalifornien seiner Leidenschaft als Maler nachzugehen.
Seinem nun vorliegenden Werk merkt man diese vorangegangene Hauptbeschäftigung unmittelbar an.
Stärker als bei so manch anderem Film, der einem in letzter Zeit vor die Augen gekommen, lässt Skolimowski, welcher übrigens auch an dem Drehbuch zu Roman Polanskis „Das Messer im Wasser“ (1962) mitgeschrieben hat und als Darsteller unter anderem in David Cronenbergs „
Tödliche Versprechen“ (2007) zu sehen gewesen ist, seine Bilder sprechen und die wenigen Dialoge eher als obligatorisches Zugeständnis an die menschliche Art dastehen.
Um seine Beobachtungen einer Person, welche unter extremen Bedingungen – im
Naturzustand – mit allen Mitteln zu überleben versucht, nicht durch möglicherweise überinterpretierte Worte zu verwässern, stellt der Regisseur die einzige Person, mit welcher unser „Held“ emotionalen Kontakt hat, als stumm dar. Es sind die Gesten, die in diesen Momenten sprechen.
Obwohl der Hauptfokus also auf die auswegslose Situation des Protagonisten und seine damit verbundenen Taten gerichtet ist, steckt dennoch auch eine nicht wirklich erklärbare Poesie in den teils atemberaubenden Aufnahmen von Kameramann Adam Sikora.
Wir leben allein und wir sterben allein, aber was uns dafür – wie die in ihrer schlichten Natürlichkeit wunderschöne Schlusseinstellung andeutet – bleibt, ist die Freiheit.
Vielleicht ist „Essential Killing“ ein unspektakulärer und streckenweise etwas arg reduzierter Film. Aber er ist auch ein wahrer Film.