Die Wehrmachtsausstellung – besser ist wohl die Bezeichnung Wehrmachtsausstellungen* – des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS) ist in ihrer Wirkungsgeschichte wohl bis heute einmalig. Von den Besucherzahlen können andere geschichtliche Ausstellungen nur träumen, von der kostenlosen Publicity ebenfalls. Nach anfänglichen Anlaufschwierigkeiten – es schien fast so als sei der Ausstellung das gleiche Schicksal beschieden, wie vielen anderen auch – stiegen die Besucherzahlen rapide an. Ausgelöst durch einen Kommentar, der eine Kettenreaktion in Gang setze, entstand eine riesige unerwartet hitzige Kontroverse, die sogar Einzug in die Debatten des Bundestages fand. Obwohl es auch Stimmen gab, die lauthals mitdiskutieren wollten, ohne je die Ausstellung besucht zu haben, führte die öffentlich ausgetragenen Meinungsverschiedenheiten dazu, dass viele sich selbst ein Bild machen wollten, von den Inhalten der Ausstellung. Die Grundthese der stark fotogestützten Ausstellung, die Teil eines größeren Projekts des HIS zum Thema „Theorie und Geschichte der Gewalt“ war, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Wehrmacht war in besetzten osteuropäischen Gebieten während des zweiten Weltkrieges aktiv an Kriegsverbrechen und der organisatorischen Durchführung des Holocausts beteiligt.
Die empörten Kritikstimmen aus den Reihen der Bevölkerungen, aber auch von vielen Politikern und Journalisten, mochten den fachkundigen Historiker zum Zeit
punkt des Ausbruchs der Debatte verwundert haben. Waren die in der Ausstellung präsentierten Thesen doch keineswegs Ergebnisse neuerer Forschungsarbeiten, sondern seit längerem bekannte und auch wissenschaftlich publizierte Erkenntnisse. Wie konnte sich das Bild der „sauberen Wehrmacht“ trotz der wissenschaftlichen Aufarbeitung derart tief in den Köpfen der Menschen festsetzen? Man könnte umgekehrt fragen, ob die Geschichtswissenschaft in dieser Hinsicht nicht geschlafen und wieso eine derartige Ausstellung so lange auf sich hat warten lassen? So begrüßte die eine Seite die Ausstellung als ein längst überfälliges Projekt, die andere Seite zeigte sich ob der angeblichen Fälschung und Geschichtsverdrehung empört und persönlich angegriffen. Von Pauschalisierung war die Rede und von Verleumdung des väterlichen bzw. großväterlichen Erbes. Ignatz Bubis hatte in einer im Jahre 1997 gehaltenen Rede einmal angemerkt, dass es für die Opfer von Kriegsverbrechen letzten Endes egal sei, welche Uniform ihre Peiniger trugen. Für Angehörige der Wehrmacht und deren Familien, Verwandte und Bekannte ist dies sehr wohl von Bedeutung. Möchte man doch schwerlich einen Verbrecher im engsten verwandtschaftlichen Kreise wissen. So scheint es, als sei Vergangenheitsbewältigung in zwei verschiedenen Bahnen verlaufen. Offiziell und im familiären Rahmen. Der Ausstellungsleiter der ersten Ausstellung, Hannes Heer, formuliert diesem Umstand in einem Interview in der Dokumentation wie folgt: „Wir haben parallel verlaufende Geschichtsschreibung, die Mündliche in den Familien, die eine Heroisierung oder auch Anekdotisierung des Geschehens darstellt […] und andererseits die offizielle Geschichtsschreibung, die sich bemüht an die Fakten – Schuld und Verantwortung – heranzukommen.“ Dies führte anscheinend dazu, dass ein stark polarisiertes Bild der nationalsozialistischen Vergangenheit entstand, in dem auf der einen Seite die abgrundtief böse und ideologisierte SS stand und auf der anderen Seite die „saubere Wehrmacht“, dessen Angehörige aus purer Vaterlandsliebe und pflichtschuldiger Treue in den Krieg gezogen sind. Unterstützt hat dieses Bild vermutlich der Umstand, dass durch das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal zwar die SS und das Oberkommando der Wehrmacht zu verbrecherischen Organisationen erklärt worden sind, die Wehrmacht als solche jedoch nicht. Die Emotionalisierung der Ausstellung lässt sich so ein Stück weit erklären. Jan Philipp Reemtsma – Vorstand des HIS und gleichzeitig bekanntes Entführungsopfer – versuchte die unterschiedlichen Reaktionen in einer Bilanzierung auf die Differenz zwischen Konzept und Kontext der Ausstellung auf der einen Seite und Erwartungen und Interessen der Besucher auf der anderen Seite zurückzuführen. Es ist in der Tat interessant danach zu fragen, inwieweit das Wissen über nationseigene Kriegsverbrechen im kollektiven Gedächtnis einer Bevölkerung nachwirkt, welchen Stellenwert es einnimmt und wie damit sowohl öffentlich als auch privat umgegangen wird. Mit anderen Worten, wie wichtig ist Vergangenheitsbewältigung für die Ausbildung von Identität bzw. Identitäten? Ebenso interessant wäre in diesem Zusammenhang natürlich auch die Frage nach der Rolle der Geschichtswissenschaft, aber auch der Politik im Prozess der Vergangenheitsbewältigung. Kann ein solcher Prozess überhaupt kollektiv ablaufen oder ist Vergangenheitsbewältigung – genau wie Schuld – nicht vielmehr etwas sehr Individuelles, genauso wie das kollektive Gedächtnis bzw. Geschichtsbild nur die Summe bzw. Schnittsstelle aller seiner Teile – den einzelnen, individuellen Gedächtnissen - sein kann?
Ein Einblick in diese Geschehnisse gibt uns nun die Dokumentation Michael Verhoevens, der von Haus aus kein Historiker ist und ursprünglich noch nicht einmal einen Film zu diesem Thema geplant hatte, jedoch aufgrund der heftigen Reaktionen auf die Ausstellung und deren Inhalte neugierig geworden ist. Neun Jahre hat er nach eigenen Angaben an dieser Dokumentation gearbeitet, was sich unverkennbar im fertigen Produkt widerspiegelt. Dokumentationen haben stets mit notwendigen verkürzten Darstellungen zu kämpfen und so erschöpft sich das Thema Wehrmachtsausstellung und Vergangenheitsbewältigung nicht in den knapp 100 Minuten Laufzeit. Verhoeven ist dennoch die richtige Mischung zwischen fesselnden Bildern und informativer Darstellung gelungen. Wie ein stiller Beobachter zeigt er in statischen Kamerabildern Teile der Ausstellungen, aber auch Aufmärsche der NPD in München, die es sich nicht nehmen lassen konnten, gegen diese aus ihrer Sicht als reine Geschichtsverdrehung anzusehende Ausstellung zu demonstrieren. Versuche Verhoevens mit Teilnehmern dieser Aufmärsche ins Gespräch zu kommen, scheitern. Die Kameralinse wird versucht mit der Hand abzudecken oder Personen verstecken ihre Gesichter unter ihren Pullovern oder hinter provokanten Transparenten. Eine individuelle Meinung dürfe nicht geäußert werden, die Zentrale werde demnächst die offizielle Stellungnahme verkünden. Auch solche Szenen zeigt Verhoeven. Oder Streitgespräche zwischen Besuchern der Ausstellung, die auch gerne bereit sind ihre Meinung und ihren Unmut vor der Kamera zu wiederholen.
Um den Zuschauer einen Einblick in das Konzept der Ausstellung und den Stand der historischen Forschung zu geben, interviewte Verhoeven auch eine Reihe namhafter Historiker, darunter den Ausstellungsleiter der ersten Ausstellung Hannes Heer, sowie Wolfgang Wippermann und Hans Mommsen. Auch der polnische Historiker und große Kritiker der ersten Ausstellung Bogdan Musial darf hier zu Wort kommen und die wesentlichen seiner Kritikpunkte noch einmal präsentieren. Ihm ging es hauptsächlich um die falsche Zuordnung von Fotos und deren Aussagekraft über historische Ereignisse. Ein heikles Thema, auch in der historischen Forschung. Fotos ist eine größere Authentizität zugeschrieben worden, als schriftlichen Quellen, kann man auf ihnen doch eindeutig sehen was sich zugetragen hat. Doch was ist mit den Dingen, die es aufgrund der Beschränktheit des Kameraobjektivs nicht mehr auf den Bildausschnitt geschafft haben?
Um der ganzen Diskussion ein menschlicheres Gesicht zu geben und um eigene Antworten zu finden, reiste Verhoeven in die Ukraine und nach Weißrussland, stellte eigene Nachforschungen an und suchte nach Augenzeugen – nicht nach Zeitzeugen - wie er es einmal in einem Interview formulierte. So trügerisch auch die menschliche Erinnerung sein kann, so kritisch Aussagen von Augen- bzw. Zeitzeugen betrachtet werden müssen, sie lassen einen teilhaben am individuellen Erfahrungshorizont menschlicher Schicksale, etwas das man durch andere Quellen – weder durch Fotos, noch durch Akten – schwer vermittelt bekommt. Man wird konfrontiert mit direkten Emotionen und kann erkennen, wie groß deren Tragweite ist und wie stark sie noch in die Gegenwart hineinreichen, wie wenig man sich von dem Erlebten befreien kann, wie sehr man durch seine Erfahrungen geprägt wird und wie enorm auch noch nachfolgende Generationen durch einen generationsübergreifenden Dialog über solche Ereignisse geprägt werden. Dem Zuschauer dies bewusst zu machen ist ein wohl ein Anliegen dieser Dokumentation. Nicht pauschale Verurteilung und voreiliges Werten der Vergangenheit helfen weiter, sondern die differenzierte Auseinandersetzung mit dem Geschehen.
So fragwürdig der Umgang mit der Ausstellung auch sein mag, so kann sie sich doch eine Reihe von Verdiensten auf die Fahnen schreiben. Zum einen zeigt sie, wie nötig ein derartiges Wachrütteln war. Zum anderen gingen von ihr, wie im Grunde von jeder Debatte, wichtige Impulse für die geschichtswissenschaftliche Forschung aus. Und zu guter Letzt scheint sie doch ein großer und wichtiger Schritt in Richtung Historisierung des Nationalsozialismus gewesen sein, der auch in der Bevölkerung einen Wandel im Geschichtsbewusstsein hervorgerufen hat. Mit jeder neuen Generation verlieren Kriegsverbrechen ihre individuelle Tragweite und werden vermutlich sukzessive zu einer Episode im Familienalbum, die sich mit zunehmendem zeitlichem Abstand immer leichter überblättern lässt. Michael Verhoeven kommt an dieser Stelle das Verdienst zu, diese Ausstellung(en) und Diskussionen dokumentiert und durch eigene Nachforschungen noch bereichert zu haben.
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* Die erste Ausstellung wurde im März 1995 in Hamburg unter dem Titel „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944“ eröffnet und anschließend in 33 Städten ausgestellt. Nach zahlreicher Kritik wurde die Ausstellung im November 1999 geschlossen, von einer wissenschaftlichen Kommission überprüft und daraufhin überarbeitet. Die neu konzipierte Ausstellung wurde unter dem leicht abgeänderten Titel „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944“ von November 2001 bis März 2004 gezeigt. Dem Hamburger Institut für Sozialforschung zur Folge handelt es sich bei der zweiten Ausstellung jedoch nicht um eine Bearbeitung oder Korrektur der alten Fassung, sondern um eine neu konzipierte Ausstellung. Vgl. http://www.his-online.de/cms.asp?IDN=297&H='793'
Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass auch die zweite Ausstellung auf den gleichen Grundthesen basiert, und somit nicht von der ersten Ausstellung getrennt betrachtet werden kann.
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