(Deutschland, 1983)
“Selbstverteidigung! Das ist der Unterricht, den ihr gebrauchen könnt. Wissen! Erkenntnis!“
Anfang der achtziger Jahre gingen in West-Berlin viele Schaukästen auf dem Kurfürstendamm kaputt, der Schlendermeile der Upper Class. Es war wieder eine Jugendrevolte, aber anders als ´68. Die Motoren waren Hoffnungslosigkeit und Trotz in einem Land, das kurz vor sechzehn Jahren Helmut Kohl stand, vor der „geistig moralischen Wende“. Der erste große Tusch war die Flick-Affäre. In Großbritannien wütete die marktradikale Margaret Thatcher.
In so eine Atmosphäre passte das Theaterstück
Class Enemy von Nigel Williams, das in einem Elendsviertel der Weltmetropole London spielt. Für die deutsche Bühnenversion transportierte Peter Stein die Handlung nach Kreuzberg, da wo in Berlin schon immer der Punk abging. Nachdem das Stück einige Zeit lang auf der Berliner Schaubühne gegeben wurde, verfilmte er es mit denselben Schauspielern. Der Film war nicht gerade erfolgreich, bis heute existiert keine DVD. Vielleicht erbarmt sich doch noch irgendwann ein Verleih, denn
Klassen Feind ist außergewöhnlich, genial und von kaum zu überbietender Intensität. Eine völlig vergessene Sternstunde des deutschen Films. Sehr zu unrecht.
Williams versammelt sechs Problemjugendliche in einem schäbigen Klassenraum. Sie haben bereits diverses Lehrpersonal ver
grault und warten auf den nächsten Kandidaten zum Auseinandernehmen. Doch der kommt nicht. Sich selbst überlassen, schlagen zwei von ihnen eine Art Spiel vor. Jeder soll eine Unterrichtsstunde über ein frei gewähltes Thema abhalten. Bald schon wird sich zeigen, dass jeder ein Stück von sich selbst preisgeben muss. Ein Drahtseilakt zwischen Erkenntnis und Selbstzerfleischung, bei dem zum Schluss keiner ungeschoren davon kommt.
Klassen Feind ist ein One-Room-Drama, oder wenigstens beinahe, nur wenige Aufnahmen führen aus der Enge des Klassenraumes heraus. Seine sechs Protagonisten sind Gefangene, in vielerlei Hinsicht. Aus der Gruppe heraus ragt, physisch wie gruppendynamisch, der Rocker ‚Fetzer’ (Ernst Stötzner), das bullige, aggressive Alphatier. Auf der anderen Seite sticht ‚Vollmond’ (Udo Samel) aus der Gruppe heraus, der Intelligenteste und durch seine Brille immer ein bisschen stigmatisiert. Er baut sich als eine Art Gegenpol zu Fetzer auf. Dazu kommen: der Punker ‚Koloss’ (Jean-Paul Rathes), ein verlumpter Außenseiter; ‚Pickel’ (Stefan Reck), ein ruhiger, fast phlegmatischer Zeitgenosse, der ständig unter Müdigkeit zu leiden scheint; der leicht androgyne ‚Angel’ (Gregor Hansen), der sich vor allem auf laszive sexuelle Anspielungen und Posen versteht; und ‚Kebab’ (Tayfun Bademsoy), der Türke, der gerne Scheiben einschmeißt. Fetzer und Vollmond sind die Aktivposten in diesem Ensemble, von Ihnen kommt die Initiative für das Spiel, doch beide können sich nicht ausstehen. Ihr Streit hängt wie ein drohendes Gewitter in der Luft. Ständig umkreisen sie einander, stacheln und heizen sich gegenseitig an, um sich dann zum Schluss des Films ordentlich auf die Schnauze zu hauen. Allerdings wäre die Bemerkung, dass sich beide nicht ausstehen können, vieleicht zu kurz gegriffen. Es ist schwer zu sagen, ob hier in diesem Stück irgendjemand irgendwen mag oder nicht. Wie die Sechs im normalen Schulalltag miteinander können, erfährt man nicht. Doch in diesen zwei Stunden sind sie aneinander gekettet, wie Schiffbrüchige. „Wir sind alleine, und wir bleiben auch alleine.“
Die Stunden werden zu kleinen, episodenhaften Erkenntnisdramen. Angel versucht sich an einer Parodie über sexuelle Aufklärung Marke Pro Familia, doch hinter dieser Fassade verstecken sich Unsicherheit und Angst. Pickel sinniert über Gartenbau, doch eigentlich benutzt er das Thema um über seinen Vater zu sprechen. Koloss startet eine Hasstirade über Ausländer und Linke, aber eigentlich geht er an seiner Einsamkeit zu Grunde. Kebab erzählt, natürlich, vom Scheibeneinschmeißen, ein Ventil, um Ausländerfeindlichkeit und Ausgrenzung zu kompensieren.
Vollmond wiederum, überrascht mit einem denkbar erdnahen Thema, der fachgerechten und kostengünstigen Zubereitung von Buletten. Fetzer gibt zum Schluss eine Lektion in Sachen Straßenkampf, wo dreckige Tricks und unbarmherzige Härte mehr als die halbe Miete sind. Er simuliert einen Kampf, während alle anderen bereits am Ende ihrer mentalen Kraft sind. Irgendwann kämpft er nicht nur mit seinem imaginären Gegner, sondern scheinbar mit der ganzen Welt. Er demoliert das Klassenzimmer in einem Wutausbruch, wie er exzessiver kaum sein könnte. Zum Schluss bricht auch er zusammen, auch hinter seiner Wut liegen Verlorenheit, Alleingelassensein und eine verzweifelte Suche nach einem Sinn im Leben.
Klassen Feind zeigt sechs junge Menschen, die mit der Welt nichts mehr anfangen können. Genau so wie die Welt mit ihnen nichts mehr anfangen kann. Das verwahrloste Klassenzimmer ist ein Symbol, denn so alleine wie sie dort sind, sind sie überall auf der Welt. Auch außerhalb dieses trostlosen Ortes gibt es nichts, was auf sie wartet. Nur Vollmond ist der einzige Optimist, dem die ganze Härte des Lebens nichts anhaben kann. Ob er für seine Stärke irgendwann belohnt wird, bleibt fraglich. Es sind sechs Ausgestoßene, Verdammte, die langsam aber sicher begreifen dass sie die Welt da draußen abgeschrieben hat. Zum Schluss fährt die Kamera aus dem Klassenraum, entfernt sich von ihnen, lässt sie auf dem Gang zurück, gleitet in einen anderen Teil des Gebäudes, wo der Gong ertönt und Schüler in die Pause eilen. Sie sind dann schon vergessen, verloren. Werden vom Abspann verschluckt. „Wir sind der fleischgewordene Traum eines jeden Sozialarbeiters!“
Klassen Feind ist natürlich - auch - ein Sozialdrama, in dem so viele Dialoge irritierend aktuell klingen. Es zeigt Menschen, die es nach dem Willen Vieler nicht geben dürfte. Anfang des Jahrtausends gab Hans-Olaf Henkel im Berliner
Tagesspiegel zu Protokoll, er kenne keine Armen. Im Sinne von 'den Leuten geht's doch super'. Franz Müntefering (SPD!) stempelte die Diskussionen um Unterschicht und Prekariat als Soziologengeschwätz ab. Fetzer hat Recht. Sie sind alleine und sie bleiben alleine. Ihre Suche, ihre Sehnsucht nach Sinn und Erkenntnis, ein Leitmotiv des Stückes, wird nicht erfüllt. Genauso, wie sie auf einen Lehrer warten, der ihnen was 'richtiges' beibringt, könnten sie auch auf Godot warten. Es bleibt paradoxer Weise nur die Erkenntnis dass es keine Erkenntnis gibt. Zumindest keine die über eine kurze Selbstentblößung hinausreicht. Und erst recht keine, die einen Weg aus ihrer dunklen Zukunft weist.
So treffend hier gesellschaftliche Realitäten fokussiert werden, so intensiv und vereinnahmend ist das Filmerlebnis. Da mag es total egal sein, dass Peter Stein zerknirscht feststellte dass die Schauspieler eigentlich viel zu alt für ihre Rollen sind und das auf dem Bildschirm natürlich deutlicher zu Tage tritt als im Theater. Uneigentlich liefern alle sechs eine Vorstellung ab, für die man stundenlang applaudieren könnte und es wäre immer noch nicht genug.
In
Klassen Feind wird geschrieen, geflucht und geprügelt, dass es raucht. Es ist elektrisierend, Stötzner, Samel und den anderen dabei zuzusehen. Die Sprache, die Stein ins Drehbuch übernahm, ist dreckig, authentisch und direkt, und bleibt doch auf gewisse Art eine kunstvolle, Energie geladene Bühnensprache die Dialoge hervorbringt, die an Schärfe und Pointiertheit kaum zu schlagen sind. Das Setting, eine typische, funktionelle Schulanstalt der frühen 80er, so einladend und gemütlich wie das örtliche Postamt, könnte passender kaum gewählt sein, genauso wie der eröffnende Titelsong,
Pretty Vacant von den Sex Pistols. (Das Stein nicht
Another Brick In The Wall von genommen hat, ist ihm gar nicht hoch genug anzurechnen.) Auch die geschickte Kameraarbeit von Robby Müller immunisiert den Film vor dem möglichen Vorwurf, nichts anderes als abgefilmtes Theater zu sein.
Alles zusammengenommen ergibt ein höchst intensives Drama, das von einer unglaublich schwitzigen, beklemmenden Atmosphäre getragen wird. Ein Urschrei, ein Exzess der Gefühle und Kommunikation, begeisternd und beängstigend zugleich.