Ein Film, ein Zündstoff. Wenn ein schwuler Atheist die Geschichte Jesu verfilmt und die prüden Kirchenväter das entstandene Kunstwerk als die vielleicht beste Jesus-Inszenierung überhaupt loben, dann lohnt sich zweifelsohne ein genauerer Blick auf das mehr als zweistündige Epos. Ob man dieser Glaubensrichtung sein Gewissen schenkt spielt hier keine Rolle. Pasolini macht die Welt der christlichen Symbolik so greifbar, dass man den Schweiß Jesu schmecken kann. Es geht darum, diese spezielle Sicht auf die Welt unmittelbar zu erleben - und das ist Kino in seiner Reinkultur.
Dabei stand ausgerechnet der provokative Filmemacher Pier Paolo Pasolini Zeit seines Lebens als skandalträchtiger Außenseiter der Gesellschaft im Kreuzfeuer der empörten Öffentlichkeit. Seine unerfüllte Sehnsucht nach einer gerechteren Welt äußerte sich in seiner unersättlichen Auflehnung gegen die geheuchelte Normalität der Gesellschaft und seiner scharfen Kritik am asozialen Zustand Italiens. Deswegen und vor allem auch wegen seiner Homosexualität wurde er vielfach angefeindet, so dass ihm vor Gericht immer wieder der Prozess gemacht und er sogar von der Kommunistischen Partei Italiens ausgeschlossen wurde. So verwundert es nicht, dass die Biografie Pasolinis nicht mit einem beruhigenden Happy End abschließen konnte: in der bedeutungsschwangeren Nacht von Allerheiligen auf Allerseelen wurde sein geschundener Leichnam im Jahre 1975 auf einem kleinen Fussballfeld entstellt aufg
efunden. Scheinbar wurde er mehrmals brutal von einem Auto überfahren, doch der rätselhafte Mord klärte sich nie ganz auf.
Pasolini: ein Quertreiber, ein Freiheitskämpfer, ein Rebell – und seinem Gestus nach vielleicht näher am Ideal Jesu, als es die meisten Würdenträger der zweitausendjährigen Kirchengeschichte jemals waren und sind. Und als der Vatikan im Jahre 1964 eine Aufführung seines Jesus-Films mit einem 40-minütigen Applaus würdigte, da zeigte sich deutlich, dass man nicht erst Kirchensteuer zahlen muss, um den wahren und unverbrauchten Kern des christlichen Glaubens verstehen, spüren und zeigen zu können.
„Das Evangelium stellte mich vor folgendes Problem: ich konnte es nicht wie eine klassische Geschichte erzählen, weil ich nicht glaube, sondern Atheist bin. (...) Um das Evangelium erzählen zu können, musste ich mich daher in die Seele eines Gläubigen versenken. Das ist die indirekte freie Rede: einerseits ist die Handlung durch meine eigenen Augen gesehen, andererseits durch die Augen eines Gläubigen.“ (Pasolini)
Pasolini hält sich sehr genau an das überlieferte Evangelium des Jüngers Matthäus, das ihm als treue Vorlage für Text und Dialog dient. Es geht sogar das amüsante Gerücht um, dass Pasolini kein ausformuliertes Drehbuch hatte, sondern nur mit einer aufgeschlagenen Bibel inszenierte. Zwar scheint diese kleine Anekdote deutlich überzogen, doch merkt man Pasolinis Film vor allem die dramaturgisch sprunghafte Erzählweise seiner Vorlage an. Er beschreibt das Leben und Sterben Jesu in markanten Momenten und Etappen, anstatt dem Zuschauer einen lückenlosen Lebenslauf mit rotem Faden zu präsentieren. Damit bleibt die Figur Jesus auf letzte Sicht immer schleierhaft und ungreifbar, auch wenn der Zuschauer sie permanent durch den Film hindurch begleitet und ihr im Laufe der Geschichte stärker vertraut wird. Kino bleibt also Kinomagie und verkümmert nicht zur sich selbst erklärenden Lehrstunde der Vernunft.
Pasolini konzentriert sich auf das Wesentliche der Geschichte und befreit sie von unnötigem Ballast. Er inszeniert bewusst ohne Pomp. Exemplarisch für sein Schaffen besetzt Pasolini auch in diesem Film das Schauspieler-Ensemble mit Laiendarstellern, sodass kein bekanntes Gesicht unnötig vom unmittelbaren Kinoerlebnis ablenkt. Es ist ein Film aus der Mitte des einfachen Volkes – einfach schlicht und ungeschönt direkt. Das Filmbild, das aus den verschiedensten Elementen hergestellt und zu einer Struktur aus Bild- und Tonschichten montiert wird, schlägt um in eine Art dokumentarisches Bild „aus dem Leben Jesu“. Wenn z.B. die Kamera bei der Kreuzigung durch die Hammerschläge und gequälten Schreie aufgeschreckt wird und nur für einen kurzen Augenblick zur zittrigen Handkamera mutiert; oder wenn die Kamera die fassungslos umherirrende Maria einfangen will und sich plötzlich und bewusst unbeholfen des Zooms bedient, um der leidenden Figur irgendwie einen Tick näher sein zu können, dann unterstüzt Pasolini die unmittelbare Authentizität des Geschehens – lange bevor Lars von Trier und Thomas Vinterberg ihr Dogma-Manifest publizierten.
„Man spürt die Kamera also aus guten Gründen. Der Wechsel verschiedener Objektive […] auf demselben Gesicht, die verschwenderische Anwendung des Zooms mit seinen Ganz hohen Brennweiten, die die Gegenstände aufquellen lassen wie zu stark gesäuerte Brote, das ständige nur scheinbar zufällige Gegenlicht mit seinen Blitzen auf den Film, die Bewegungen der Handkamera, die ausgedehnten Fahrten, die absichtlich falschen Montagen, die irritierenden Anschlüsse, das endlose Verharren auf einem und demselben Bild etc. etc.“
Der Filmemacher Pier Paolo Pasolini stellt hier zweifelsohne eine der wenigen Ausnahmeerscheinungen im europäischen Kino dar, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, wieder die demütige Ehrfurcht ins Kino zu bringen und die Besonderheit des Filmerlebnisses zu einer religiösen Erfahrung zu machen. Das wahre Potential dieser Kunst sollte wieder vollends ausgeschöpft werden. Im Gegensatz zur Literatur, die die Welt stets nur mittels Worte indirekt beschreiben kann, glaubte Pasolini, im Filmschaffen ein Medium gefunden zu haben, das es ihm ohne Umwege ermöglichte, die Welt als performatives Ereignis direkt erfahrbar machen zu können. Dass er dadurch die Welt nicht verbessern konnte, war ihm vollkommen klar, denn es ging Pasolini keineswegs darum, mittels dieser Kunst vernünftige Aufklärung und moralische Belehrung zu betreiben, sondern die unbeschreibbare Magie des Lebens und ihre unmittelbare Wucht in eine angemessene Form zu transportieren. Die Schönheit der Welt sollte in all ihrer traumhaften und albtraumhaften Vielfalt für sich sprechen können und dürfen. Damit setzte er dem logischen Intellekt ein mythisches Moment entgegen.
Für Pasolini war es immer wichtig den einmal eingeschlagenen Weg zur Selbsterkenntnis zu Ende zu gehen und sich der Angst vor dem wahren Gesicht des eigenen Ichs zu stellen. Dass die Auseinandersetzung mit sich selbst dabei unabtrennbar mit Schmerz, Leid und dem Tod verbunden war, bezeichnete für Pasolini die zu akzeptierende Erkenntnis. Erst in der Grenzüberschreitung, die ihrem grundlegenden Prinzip nach brutal ist und stets darin endet, dass das Alte sterben muss, um das Neue hervorzubringen, zeigte sich für Pasolini der Sinn des Lebens. Es verwundert daher nicht, dass „Das 1. Evangelium – Matthäus“ eine besondere Stellung im Schaffen Pasolinis einnimmt.
„Die Performanz der großen Mythen im Kontext der modernen Welt hat mich immer getroffen, aber noch mehr das unaufhörliche Hineinspielen des Heiligen in unser alltägliches Leben. Es ist diese zugleich offensichtliche und doch der rationalen Analyse nicht greifbare Präsenz, die ich in meiner Schreib- und Kinoarbeit zu erfassen suche.“