Skandinavische Filmkost ist selten leicht verdaulich. Man muss dazu nicht einmal Ingmar Bergmans Opus heranziehen, wenn selbst vermeintliche Gangsterkomödien wie
Blinkende Lygter schon eine stark melancholisch-düstere Seite aufweisen. Da verwundert es nicht, wenn der dritte Spielfilm des Norwegers Pål Sletaune ebenfalls nicht gerade partytauglich ist. Die tatsächliche Abgründigkeit von
Naboer, die sich im Laufe seiner übrigens recht kurzen Spielzeit auftut, überrascht dann allerdings doch. Es hat durchaus seine Berechtigung, dass diesem Film im Heimatland Norwegen die überaus seltene 18er-Freigabe erteilt wurde - ein Siegel, das dort seit 17 Jahren kein Film mehr erhalten hatte.
Die Geschichte dreht sich um den Büroangestellten John, dessen Freundin sich vor kurzer Zeit von ihm getrennt hat. Dies hat seiner ohnehin fragilen Psyche einen weiteren Stoß verpasst. Sein Dasein dreht sich immer noch ganz und gar um die Frau, die ihn verließ; zurückgezogen lebt er nun allein im obersten Stockwerk eines Mietshauses. Seine aufgeräumte, saubere, ja geradezu sterile Wohnung stellt einen verzweifelt aufrecht gehaltenen Kontrast dar zu dem finsteren Labyrinth, das seine Seele ist. Plötzlich trifft er auf zwei mysteriöse Nachbarinnen, die er noch nie bemerkt hat, obwohl sie direkt nebenan wohnen. Beim Besuch der beiden Frauen, die ein seltsames Interesse an ihm zu haben scheinen, verliert er sich zusehends in den langen, verwinkelten Gäng
en der düsterdreckigen Wohnung und versinkt in einem schwülen Albtraum aus Sex und Gewalt.
Häufig habe ich in Kommentaren zu
Naboer Vergleiche mit Lynchs surreal-unwirklicher Filmwelt gefunden. Obwohl Sletaunes Werk in seinem narrativen Aufbau tatsächlich zunächst einige Fragen offen lässt und ein wenig mit den Erwartungen und dem Unwissen des Zuschauers spielt, ist es weit entfernt von den weitaus radikaler aufgelösten Erzählstrukturen eines
Lost Highway oder
Mulholland Drive. Tatsächlich halte ich den Vergleich mit Lynch für in die Irre führend; so fehlt in
Naboer zum Beispiel die für den US-Regisseur so typische selbstreflektive Metaebene völlig - anders als man es zunächst annehmen könnte, ist dieser Film kein Mindfuck in dem Sinne, dass der Zuschauer am Ende zurückbleibt und zuerst nicht mehr weiß, wo oben und unten ist.
Der Clou des Films liegt auf einer viel direkteren, inhaltlichen Ebene, nämlich in der Auslotung der menschlichen Seele. Um einen weiteren Vergleich zu bemühen, schuldet dieser Film viel von seiner bedrückenden Atmosphäre den Filmen Roman Polanskis, vor allem
The Tenant. Das Gefängnis aus Einsamkeit, in das sich die Protagonisten beider Filme einmauern und aus dem heraus ihnendie Welt fremdartig und feindselig erscheint, wird auch hier recht beeindruckend konstruiert. Wo es aber in
The Tenant mit unerbittlicher, ungebrochener Konsequenz zu Ende geführt wird, wird es in
Naboer wieder aufgebrochen, um Sex und Gewalt Einlass zu gewähren. Diese Mischung aus trostloser Tristesse und exzessiver Brutalität vollbringt Sletaune in seinem Film problemlos. Dabei geht er sehr zielstrebig voran: Die Geschichte ist genau so weit verschachtelt, wie sie zur Veranschaulichung der Vorgänge in Johns Kopf sein muss. Es wird gar nicht versucht, die Geschehnisse möglichst kryptisch erscheinen zu lassen, um zusätzliche Spannung zu erzeugen, stattdessen ahnt der Zuschauer generell recht gut, was eigentlich vor sich geht. Stattdessen ist die Narration auf das Essentielle heruntergebrochen und wird ohne unnötige Subplots konsequent zu Ende geführt.
Dieses Gerüst wird erfüllt mit einer dichten Atmosphäre, die den Zuschauer Johns Seelenleben ohne Umwege spüren lässt. Sei es das kränkelnde, fragile Gefühl giftiger Leere oder die schwüle, erotisch aufgeladene Hitze voll unterdrückter Brutalität, die sich zwangsweise entladen muss: Das Zusammenspiel aus Bild, Kameraführung, Musik (Simon Boswell) und exzellent aufspielenden Akteuren erschafft einen Sog, der den Zuschauer unweigerlich erfasst. Die Subjektivität dieses Seelentrips lässt ihn dabei häufig geradezu unangenehm direkt an den Gefühlen des Protagonisten teilhaben und ihn in der Reaktion auf die geschickt angeordnete Folge der Ereignisse darüber reflektieren, wie sich die geplagte Seele in einem Netz aus Schuld, Verdrängung und Selbstbetrug verstrickt, das ihr schließlich die Luft zum Atmen nimmt. Seine intensiv albtraumhafte Atmosphäre macht
Naboer zu einer klaren Empfehlung und einem Filmerlebnis mit Nachhall.