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von Vincent Perez




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Sweet Mud - Im Himmel gefangen

Sweet Mud - Im Himmel gefangen

Ein Film von Dror Shaul

Kibbuzim (so die Mehrzahl von Kibbuz) sind seit langem Gegenstand europäischer Idyllphantasien, eine Welt, so denkt man sich, in der nach sozialistischem Vorbild gelebt, gearbeitet und geteilt wird, alles so gerecht, wie nur möglich. Eine paradiesische Welt, fernab von Kapitalismus und Ausbeutung.
Vor allem nach Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 begann die Welle der Kibbuzim. Wie sich die Situation in einem solchen Kollektiv in den 1970er Jahren darstellte, zeigt "Sweet Mud - Im Himmel gefangen" auf das meisterlichste.

Der Junge Dvir lebt zusammen mit seiner Mutter Miri und seinem älteren Bruder Eyal in einem solchen Kibbuz, wobei er, wie jeder Junge bis zum 13. Lebensjahr, bis zur bar mitzwah, in einem sogenannten Kinderhaus lebt, das in den Kibbuzim eingeführt worden ist, um die Eltern von der Pflege ihrer Kinder zu entbinden und ihre Arbeitskraft effektiver zu nutzen. Dvir aber gehört zu jenen "ungezogenen", weil freiheitsliebenden Jungen, die nachts entwischen und auskosten, was es bedeutet, sich sein eigener Herr zu sein - unter anderem, indem er mit seinem Bruder Eis stehlen geht und es im Schwimmbad genüsslich schlürft.
Seine Großmutter väterlicherseits stellt ihre eigene Marmelade her und gibt Dviri, wie der Kosename des Jungen lautet, eine Liste von Kibbuzbewohnern mit auf den Weg, die er auf dem Fahrrad mit der köstlichen Leckerei zu beliefern hat - wer auf der Liste steht, ist wer im Kibbuz, wer nicht, sieht dem vorbe
ifahrenden Dvir ratlos und sorgenerfüllt hinterher. Eines Morgens fährt er bei seiner Mutter vorbei, um auch ihr ein Glas Marmelade zu bringen. Zeitgleich kommen zwei neue Freiwillige ins Kibbuz, diesmal aus Finnland. Als Dvor seine Mutter ruft, um die Gäste zu empfangen, erscheint sie nur in Unterwächse bekleidet, als sei nichts Schlimmes dabei, vor ihnen - das erste Mal, dass der Zuschauer mit ihrem verwirrten Geisteszustand konfrontiert wird. Unglaublich, wie austachiert, wie sensibel, wie fühlbar zerbrechlich Ronit Yudikevitch ihre Figur spielt, so gut, dass man vergisst, dass Ronit Yudikevitch die Miri nur spielt und nicht selbst Miri ist.
Die einzige Hoffnung auf Verbesseung ihres Zustands kommt aus der Schweiz, in Gestalt des Landesjudochampions Stephane. Ihn hat Miri vor langer Zeit kennengelernt und mit ihm steht sie noch in Briefkontakt. Nun kündigt sich sein Besuch an, der aber erst von der Kibbuzversammlung genehmigt werden muss. Der Vorsitzende der Versammlung, der nach sozialistischem Prinzip turnusmäßig wechselt, trägt ihren Antrag vor, sie darf selbst Stellung zu ihm nehmen und die Versammelten teilen allen ihre Ansicht über den Gast mit - ein Abwägen der Pros und Contras, bei dem letzten Ende die Ja-Stimmen überwiegen. Auch dies ein interessantes und zuvor selten gesehenes Dokument der basisdemoktratischen Organisationsstruktur des Kibbuz, wie sie vor über 30 Jahren prakziziert wurde.
Sweet Mud - Im Himmel gefangenSweet Mud - Im Himmel gefangenSweet Mud - Im Himmel gefangen

Dvir, sein Bruder und alle anderen erwarten einen jugendlichen, großgewachsenen, starken Mann - doch als Stephane leibhaftig aus dem Bus steigt, der ihn in das Kibbuz bringt, ist er genau das Gegenteil vom Erwarteten und Miri die einzige, die fähig ist, ihn anhand seines Aussehens zu erkennen. Umso schwieriger gestaltet sich die Annäherung für Dvir und alle anderen Kibbuz-Bewohner. Doch glücklicherweise sind Charme, Ehrlichkeit und Freundlichkeit Werte, die alle äußeren Eindrücke überdecken können und Menschen für sich gewinnen können. Zwischen dem wohlerzogenen Europäer und dem Jungen, der seit einem tragischen Vorfall keinen Vater mehr hat und als männliche Ansprechperson nur seinen Bruder besitzt, welcher jedoch überwiegend hübsche Ausländerinnen und das kibbuzeigene Schwimmbad im Kopf hat, entwickelt sich eine innige Beziehung. Auch Miri blüht auf. Wie jedes Glück dauert aber auch dieses nur eine Zeitlang, solange, bis Stephane in einer Notsituation seine Judokünste hervorholt und den brutalen Kibbuztyrann Avraham, der sich an Dvir vergreifen will, außer Gefecht setzt. Das Kollektiv duldet keine Gewalt und der Schweizer muss das Kibbuz verlassen. Miri fällt wieder in sich zusammen.
Eine andere Europäerin bringt zugleich das Leben Dvirs durcheinander: die aus Paris in das Kibbuz gekommene Maya, ein hübsches, kluges Mädchen, das, wie Stephane feststellt, ein Auge auf ihn geworfen hat. Sie wird zu seinem einzigen Beistand, als auch noch Eyal in die Armee einberufen wird und mit ihr versucht er, das Leben seiner Mutter zu retten. Ihr Zustand wird zum Dauerthema im Kibbuz, aber anstatt ihr zu helfen, wird sie als psychische Kranke abgeschrieben und sich selbst überlassen. Die Gemeinschaft versagt vor dem Einzelnen, der sich in der Kette als schwächeres Glied herausstellt. Allmählich kommt immer mehr ans Licht, welch tragischen Folgen das Leben im Kibbuz mit sich gebracht hat und bringt.

Regisseur Dror Shaul wurde selbst in einem Kibbuz groß, ging dann zur Armee, kehrte aber nicht wieder in sein vorheriges Leben zurück, sondern zog nach Tel Aviv und begann im Film tätig zu sein. "Es hat Jahre gedauert, bis ich den Mut gefunden habe, dieses Drehbuch zu schreiben", sagt Shaul. "Diesen Film zu machen, war ein langer und manchmal ermüdender Prozess, der dem des Heranwachsens, des Erwachsenwerdens ähnelte." Ein Glück, dass Shaul den Mut fand und das, von Robert Redford gegründete, Sundance Institute auf den Film aufmerksam wurde. Nur mit dessen Förderung kam es zur Verwirklichung des Projekts, ohne dass dem jungen israelischen Kino ein wichtiger Bestandteil fehlen würde. Einige Filme aus dem Land im Nahen Osten haben in den letzten Jahren in Europa Beachtung gefunden, "Sweet Mud" gehört dabei zu den Bemerkenswertesten, was filmisches Können, darstellerische Leistung und zeitgeschichtliche/historische Bedeutung anbelangt.
Sweet Mud - Im Himmel gefangenSweet Mud - Im Himmel gefangenSweet Mud - Im Himmel gefangen

Mit Tomer Steinhof als Dvir gilt es einen Jungschauspieler zu bestaunen, der auf frappierend-geniale Weise den Film mit seiner Ausstrahlung und seinem Aufgehen in der Rolle an sich zieht und zugleich erst den wahren Blick auf ihn ermöglicht, und von dem es ganz nebenbei zu bemerken gilt, dass mit ihm der (möglicherweise) schönste Junge der Filmgeschichte auf der Leinwand gebannt wurde. Nicht ein Darsteller, der (in diesem Fall positiv gemeint) aus dem Kollektiv fällt, der nicht eindringlich und wirklich Schwächen und Stärken seiner Figur mit Leben erfüllt. Bei alledem ist das Angenehme an Shauls zweitem Regiewerk (das den Gläsernen Bären bei des diesjährigen Berlinale, den Preis der Sundance Jury als bester ausländischer Film und einige "Israel Academy Awards" erhlaten hat - eindeutig, einige zu wenig), das es zu keinem Zeitpunkt eine schwarz-weiße Sicht auf seine Handlung vorgibt, sondern bis zum Schluss offen lässt, ob Schein und Wirklichkeit korrespondieren. Gleich zwei wunderbar entwickelte, zärtliche Liebesgeschichten, die berühren und nicht vergessen werden, das Erschüttern eines vermeintlichen Idylls, auf jeden Fall sein Hinterfragen und eine Kamera, die die Wüste Israels zu einem Ort der Sehnsucht macht, immer im Bewusstsein, idyllisch zu wirken, aber nie, es zu sein.

Eine Rezension von Michael Kaufmann
(06. Juli 2008)
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Daten zum Film
Sweet Mud - Im Himmel gefangen Israel/Frankreich/Deutschland/Japan 2006
(Adama Meshuga'at)
Regie Dror Shaul Drehbuch Dror Shaul
Produktion Sweet Mud Ltd., Heimatfilm Kamera Sebastian Edschmid
Darsteller Tomer Steinhof, Ronit Yudikevitch, Henri Garcin
Länge 97 min FSK
www.sweetmud.de/
Filmmusik Tsoof Philosof, Adi Rennert
Kinostart: 7. August
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