„Second chances are rare, man. You ought to take better advantage of them.“
Dan Dunne (Ryan Gosling, „State Of Mind“, „
Stay“, „
Das perfekte Verbrechen“) unterrichtet Geschichte und Sport an einer Junior-Highschool in Brooklyn. Seitdem ihn seine Freundin, die bald heiratet, verlassen hat, versucht der drogenabhängige Wissensvermittler seine Situation mit noch mehr Rauschmitteln erträglicher zu machen. Seine Schulklasse, die vollständig aus afroamerikanischen und hispanischen Kindern der Unterschicht besteht, ist der einzige Halt den der junge Lehrer in seinem Leben besitzt und ihn vor dem vollständigen sozialen Absturz bewahrt. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen sieht er nicht als strenge Autoritätsperson auf seine Zöglinge von oben herab, sondern versucht ihnen mit einfachen Erklärungen die Bedeutung von „Geschichte“ zu veranschaulichen. Und so zieht der sympathische Idealist auch während des Unterrichts die Augen und Ohren der Kinder, die außer dem Unterrichtsstoff größtenteils schwerwiegendere Probleme in ihrem Umfeld bewältigen müssen, auf sich.
Diese sehen in ihm eher einen Gleichgesinnten, der die gleiche Sprache wie sie spricht und der bei unfairem Verhalten von Schiedsrichtern w
ährend Basketball-Spielen, jene auch beschimpft und mit Bällen bewirft. Als ihn eines Tages seine Schülerin Drey (Shareeka Epps) nach einem Drogen-Trip in einer der Toiletten auffindet, ist sein Geheimnis vor ihr gelüftet und es entwickelt sich eine freundschaftliche Beziehung zwischen den beiden einsamen Menschen, die auf den zweiten Blick mehr gemeinsam haben, als es zunächst den Anschein hatte.
Dreys Mutter ist alleinerziehend und arbeitet fast den ganzen Tag als Polizistin, weshalb ihre Tochter sie auch recht selten sieht und sich deshalb auf der Strasse herumtreibt. Dort gerät Drey an den Drogendealer Frank (Anthony Mackie), der sich gelegentlich um sie kümmert, aber sie auch zu seinem Kurier machen möchte. Dan, der sie inzwischen regelmäßig nach Hause bringt und sich viel Zeit für seinen Schützling nimmt, sieht es gar nicht gern, dass der Kriminelle Einfluss auf sie hat. Doch ist das Verändern eines anderen Lebens gar nicht so einfach wenn man selbst dem Abgrund nahe ist…
Der Kinogänger erinnert sich: Bereits 1995 hat Michelle Pfeiffer als Lehrerin und Ex-Marine den Klassenraum einer Problem-Highschool betreten. Die sehr dürftige Jerry Bruckheimer-Produktion, in welcher sich die „Heldin“ letztendlich mit cooler Lederjacke und Schokoriegel-werfend gegen die bösen „Ghetto-Ungeheuer“ durchgesetzt hat, trug den Namen „Dangerous Minds“, und wer sich nach der Inhaltsangabe zu eben diesem Streifen zurückversetzt gefühlt hat, dem sei gesagt dass der vorliegende Film qualitativ rein gar nichts mit dem genannten, plumpen Popcorn-Schinken zu tun hat.
Nein, „Half Nelson“, der das Spielfilmdebüt des Autorin/Regisseur-Gespanns Anna Boden/Ryan Fleck darstellt, ist ein aus dem Leben gegriffener, zutiefst ehrlicher Film geworden, der eben
nicht irgendwelche Ghetto-Klischees bedient, sondern dem Zuschauer sehr reale und tiefgründige Charaktere präsentiert. Dabei muss man einfach in erster Linie die beiden Hauptdarsteller Ryan Gosling, der für seine Rolle 2007 Oscar-nominiert gewesen und bald wieder in „Lars und die Frauen“ auf den deutschen Leinwänden zu sehen ist, sowie die junge Newcomerin Shareeka Epps als Drey hervorheben. Dass vor allem Gosling ein großartiger Schauspieler ist, hat sich bereits in den Rollen seiner bisherigen Filme angedeutet, doch hier vollbringt er eine wirklich herausragende Leistung. Im Prinzip ist „Half Nelson“ auch von der Seite des Regisseurs sehr sparsam und mit wackelnder Handkamera inszeniert worden, was in diesem Fall aber auch sehr viel Sinn macht, da einfach das Hauptaugenmerk bei den Schauspielern liegt. Das hat eben nichts damit zu tun dass Ryan Fleck kein Talent besitzt, sondern er, im Gegenteil, sich große Mühe im Vorfeld bei der Auswahl der Besetzung gegeben hat und dieser nun voll und ganz vertrauen kann. Denn wie schon erwähnt geht Ryan Gosling in seiner Rolle als drogenabhängiger Lehrer voll und ganz auf, und die Grenze zwischen Performance und Realität verwischt für den Zuschauer. Außerdem muss angemerkt werden, dass auch die anderen Charaktere, wie der Dealer Frank, sehr menschlich und nicht wie Shotgun-feuernde, völlig verblödete „Gangstaz“ dargestellt werden.
Auch Rapper „Coolio“ hat wohl zum Glück keine Zeit gehabt, nach seinem „Dangerous Minds“-Beitrag auch hier ein paar Zeilen aus dem Ghetto vorzutragen, und so stammt der wirklich fantastische und für den Film ungewöhnliche Soundtrack von der kanadischen Band „Broken Social Scene“.
„The sun goes up and then it comes down, but everytime that happens what do you get? You get a new day.“
Obwohl „Half Nelson“, dessen Titel von einem Begriff vom Ringen abgeleitet ist, der einen Griff beschreibt, aus welchem man sich nur schwerlich befreien kann, nicht gerade als „Gute Laune“-Beitrag anzusehen ist, ist er doch ein durch und durch positiver Film geworden, der den Independent-Sektor um ein weiteres Juwel bereichert.
Ärgerlich ist es vor allem, dass das gute Stück einem hierzulande trotz einer Oscar-Nominierung so lange vorenthalten worden ist. Zum Glück schafft es dennoch in kleiner Kopienzahl den Sprung in die Kinos. Man denke hier nur an das von Darren Aronofsky inszenierte und von exzellenten Kritiken überhäufte Drogendrama „
Requiem for a Dream“ (2000), bei welchem Ellen Burstyn ebenfalls als „Beste Hauptdarstellerin“ für den Oscar nominiert gewesen ist und welches der Verleih in Deutschland ebenfalls lediglich als lieblose DVD-Premiere mit mäßiger Synchronisation aufgelegt hat...
Wer also die Möglichkeit hat, sollte sich „Half Nelson“ unbedingt ansehen!