Der Regisseur und Drehbuchautor
Christopher Nolan, gerne als Regiewunderkind verschrien, dürfte sich mittlerweile eigentlich damit abgefunden haben, bei jedem seiner Filme in Windeseile im Mittelpunkt etlicher Fandiskussionen zu stehen. Seine Werke sind schließlich immer eines: ambitioniert. Und meistens ist es gerade diese Tatsache, an der sich der ein oder andere Zuschauer letztlich stößt. Denn nie kann ein Regisseur es allen recht machen. Exemplarisch geben Nolans Werke seit jeher ein wunderbares Fallbeispiel dafür ab, dass Filmen auch immer wieder Gegensätze anhaften: Denn was der eine liebt, hasst der andere, oder: Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt.
Aus diesem Grund möchten wir für
mannbeisstfilm heute ausnahmsweise einmal Neuland betreten und
„INTERSTELLAR“ (2014), das aktuelle Werk von Nolan, in Gestalt eines Dialogs ohne einleitende Sternchen-Bewertung besprechen, in dem hoffentlich die unterschiedlichen Herangehens- und Sichtweisen, mit dem sich der Zuschauer dem Werk nähern könnte, erkennbar werden. Wir, die Autoren Dr. Asokan Nirmalarajah (
AN) und Stefan Rackow (
SR), erhoffen uns hiervon zum einen interessante Einblicke in ein diskussionswürdiges Werk, zum anderen einen deutlichen Mehrwert für den Leser, der sich einmal nicht der Meinung eines einzelnen Autors ausgesetzt sieht, sondern bestenfalls zwei Seiten der Medaille präsentiert bekommt:
SR: „INTERSTELLAR“ definiert sich meinem Empfinden nach zuvörderst über Gefühle respektive den bloßen Anschein, Emotionalität zu verkörpern, was der Geschichte über das drohende Ende der Welt und einer (wenig subtilen) Zurschaustellung von entzwei gerissenem Familienglück geschuldet ist. Was ja an und für sich eine gute, erstrebenswerte Sache darstellt. Das Problem ist nur: Nolan, dem ja gerne vorgeworfen wird, über seine Ambitioniertheit den Menschen im Film zu vergessen, übernimmt sich dieses Mal leider gehörig mit seinem Vorhaben und legt mit seinem Sci-Fi-Drama
„INTERSTELLAR“ für mich den bisher kühlsten und distanziertesten Film seiner Karriere vor. Ein Punkt, der mir jedoch erst einige Tage nach der Kinosichtung gewahr wurde, woraufhin sich die anfängliche Überwältigung (ich habe den Film seinerzeit im Berliner Zoopalast in 70mm gesehen) in eine mittelschwere Enttäuschung auf hohem Niveau wandelte. Hat sich Dein Ersteindruck mit der Zeit auch verändert, Asokan?
AN: Nicht ganz. Meine Sichtung von
„INTERSTELLAR“ ist zwar auch einige Wochen her. Aber leider kam ich im Unterschied zu Dir nicht in den Genuss, die bildgewaltige Produktion in der bestmöglichen Auflösung auf der Leinwand (oder besser noch im IMAX-Kino) zu sehen. So wie sein unmittelbarer thematischer wie stilistischer Vorläufer, Stanley Kubricks
„2001- Odyssee im Weltraum“ (1968), fordert Nolans Film den Zuschauer geradezu dazu auf, die unendlichen Weiten des Weltraums (und im nächsten Schritt der menschlichen Psyche) in 70mm zu erleben.
So stellte sich die Enttäuschung, von der Du sprichst, bei mir schon beim Sehen ein. Denn ohne die überlebensgroßen Bilder und die bombastische Soundanlage erweist sich
„INTERSTELLAR“ tatsächlich als ein etwas ungelenk konstruiertes und erzählerisch missglücktes Unterfangen. Das Problem der nicht ganz überzeugenden Emotionalität des Films, das Du anschneidest, hatte ich auch. Der unverhältnismäßigen, holzhammerartigen Betonung der Familiengefühle in den Dialogen und im Spiel der durchaus soliden Besetzung steht die sterile, verkopfte Inszenierung Nolans gegenüber. An der Stelle eines chronisch menschelnden Kinoerzählers wie Steven Spielberg tut sich Nolan mit seiner kühlen, düsteren Noir-Sensibilität eher schwer. Nolan ist gut für knifflige Plots, verbitterte Antihelden und ungemütliche urbane Räume, in denen das Chaos regiert und die Hoffnung am Ende triumphiert. War nicht immer schon der Grund für all diese Fandiskussionen seine Affinität für verschachtelte Erzählstrukturen und
mindfuck-Wendungen und weniger seine emotional berührenden Helden? War Nolan nicht vielleicht der falsche Regisseur für ein SciFi-Familiendrama, Stefan?
SR: Nicht unbedingt der falsche. Falsch ist so ein hartes Wort. Gibt es den überhaupt, den
richtigen Regisseur? Ich würde Nolan weniger aufgrund seiner Film-Vita, sondern eher wegen künstlerischer Nebenaspekte als weniger geeignet für ein derartiges Projekt bezeichnen. Denn dass er mit der Materie Film an sich und dem Geschichtenerzählen umzugehen weiß, hat er mehrfach bewiesen. Mein Nolan-Liebling ist ja etwa nachwievor
„Memento“ (2001), kein SciFi-Familiendrama sicherlich, aber ein schöner Beweis dafür, dass Nolan auch menschliches Drama beherrscht. Nur wusste
„Memento“ seinerzeit etwas vorzuweisen, das das menschliche Drama für den Zuschauer noch intensivierte: die rückwärts laufende Filmhandlung. Ein solches Gimmick besitzt
„INTERSTELLAR“ nun gerade nicht, weshalb der emotionale Aspekt gänzlich auf den Charakteren lastet, die sich in einer mehr oder minder linear erzählten Geschichte durch Zeit und Raum bewegen. Und hier versagt
„INTERSTELLAR“ dann auch für mich, da ein Nolan-Film immer nur so gut ist wie das Gimmick, das der jeweilige Film bereithält. In der Vergangenheit waren das etwa der kongenial besetzte Joker in
„The Dark Knight“ (2008) oder sich vor unseren Augen biegende Traumwelten in
„Inception“ (2010): Jetzt gibt es einen salbadernden Roboter, dessen Humor sich mit der vorherrschenden Grundstimmung des Films beißt, und ein nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten getrickstes Schwarzes Loch, welches irgendwie jede Emotionalität aufzusaugen scheint. Auch wenn die Effekte solide ausfallen:
Erwarten wir inzwischen vielleicht einfach zu viel von einem Nolan-Film? Neue Gimmicks? Tricks? Twists?
AN: Mein Lieblings-Nolan ist auch
„Memento“, weil er bei aller ausgeklügelter Erzähltechnik vor allem durch das erschütternde Schicksal seines Protagonisten zu fesseln weiß, der aufgrund seiner Gedächtnisschwäche nie die Erlösung finden kann, nach der er so verzweifelt sucht. Ich hoffe, dass Nolan nicht dasselbe Schicksal ereilt wie seinen Regiekollegen M. Night Shyamalan. Von dem „The Sixth Sense“-Regisseur erwartete man irgendwann auch nur noch erzählerische Kapriolen und überraschende Wendungen und achtete nicht mehr auf seine doch beachtlichen Inszenierungskünste, die sich aber leider alsbald in unsägliche Sci-Fi/Fantasy-Projekte verliefen. Das Gimmick, das Alleinstellungsmerkmal von
„INTERSTELLAR“, ist vermutlich das Finale, in dem unser weltraumreisender Held (Matthew McConaughey, der die Geschichte mit seinem unaffektierten Spiel gut erdet) in Dimensionen vorstößt, die kein Mensch zuvor betreten hat. Die dadurch entstehende Anfang-Schluss-Bindung des Plots birgt einige der beliebten Paradoxien von Zeitreisegeschichten, aber kommt viel zu spät, um die spannungsarme Geschichte aufzufangen, die sich im freien Fall befand bis zu dem interessanten Auftritt von Matt Damon im letzten Drittel. Waren alle Nolan-Filme bisher trotz mancher Schwächen eigentlich immer durchweg unterhaltsam, fand ich
„INTERSTELLAR“ oft bemüht und ambitioniert, aber nicht souverän und mitreißend. Vielleicht liegt dort vielmehr die Enttäuschung. Wie involvierend fandest Du den Film, Stefan, und wurdest auch Du immer wieder von den anstrengenden Soundcollagen aus dem Film gerissen wie ich?
SR: Ach ja, der gute
Hans Zimmer... Angenommen, die Sogwirkung des Schwarzen Loches hätte durch die Leinwand hindurch direkt auf mich Einfluss genommen, so wäre der Zimmer-Score wahrscheinlich mein Anker gewesen, der mich im Hier und Jetzt hält. Ich weiß bis heute nicht, ob ich die Sounduntermalung, sowohl in musikalischen als auch sonstigen Belangen, unfassbar gut oder gnadenlos unpassend finden soll. In jedem Fall unterstützte Zimmers penetranter Orgel-Score zu Anfang noch gut die pessimistische Weltuntergangsstimmung, tönte mit zunehmender Laufzeit aber derart pompös aus allen Richtungen des Kinos, dass teils das gesprochene Wort der Protagonisten nicht mehr verständlich war. Als wenn ihm angesichts der Katastrophe sowieso keine Bedeutung mehr zukommt. Ja, ich weiß, dass das angeblich von Nolan genau so beabsichtigt war, wie er nach etlicher Kritik an der angeblich miserablen Soundmischung schließlich reumütig zugab. Es ließ mich aber zum Teil regelrecht erzittern (vielleicht lag es auch einzig an der bassgeschwängerten Vorführung). Ein wirkliches Teilhaben an den Schicksalen auf der Leinwand war so, zumindest für mich, aber nicht möglich. In Erinnerung bleibt nach einigem Sackenlassen bloß noch pures, gleichwohl solides Überwältigungskino für die Sinne, in dem, überspitzt gesagt, die Menschen eher die zweite Geige spielten. Da kam die Pause zum Lufholen nach etwa der Hälfte gerade recht, denn mit Sicherheit waren dies für mich die bisher anstrengendsten 170 (Film-)Minuten. Was sagt das nun über den Film aus?
AN: Anstrengend ist eine gute Beschreibung von
„INTERSTELLAR“, aber leider nicht im positiven Sinne. Der Film ist nicht anstrengend anspruchsvoll, sondern anstrengend zerfahren. Dabei sind seine unterschiedlichen, aber wenig homogen zusammengeführten Ansätze durchaus ansprechend. Nolan will hier viel erreichen: 1. ein überwältigendes Fest für Augen und Ohren, das in Erinnerung bleibt, 2. eine emotional mitreißende, sehr amerikanisch lokalisierte Vater-Tochter-Geschichte, 3. einen wissenschaftlich fundierten, kniffligen Thriller über intergalaktische und interdimensionale Flüge, und 4. ein mit einem „lustigen“ Sidekick aufgelockertes Actionabenteuer. Leider hat mich keins dieser Genre-Elemente überzeugt. Vielleicht wirkt deshalb auch Hans Zimmers mal brilliante, mal erschlagende Musik so seltsam. Zimmers Beitrag zu Nolans Batman-Filmen und vor allem zu
„Inception“ fand ich phänomenal gut. Hier ist er Teil eines wirklich konfusen Sound-Mixes, wie Du das gut beschrieben hast. Am Ende bleibt auch für mich nur aggressives Überwältigungskino (gutes Wort!) übrig, das durchaus seine Schauwerte hat, aber nicht ganz zusammenkommt zu einem stimmigen und mitreißenden Ganzen. Dennoch, vermute ich mal, sind wir beide schon gespannt auf den nächsten Nolan! ;)
SR: So lässt es sich durchaus zusammenfassen. Das nächste Projekt soll sich ja bereits in den Startlöchern befinden.
Und damit endet diese jüngste Fandiskussion um einen Nolan-Film. Wir freuen uns über eine Fortsetzung unserer Debatte in den Kommentaren. Wie hoch ist Nolan mit
„INTERSTELLAR“ für Euch geflogen und wie tief ist er dabei vielleicht gefallen?
Cover & Szenenbilder: © Warner Bros.